Vor dem Sturm

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Baden-Baden im August 1913, die 21-jährige Selma Rosenbaum verbringt den Sommerurlaub wie jedes Jahr gemeinsam mit ihrer Familie im eleganten Hotel Bellevue. Zur Familie gehören Vater Joseph, Verleger und Reichstagsabgeordneter, Mutter Hedda, Oma Meta und Bruder Grischa. Selma ist mit dem Rechtsanwalt Gero von Sudloff verlobt, der ihr in die Sommerfrische folgen will. Einstweilen begnügt sie sich mit Geros romantischen Briefen und besucht unbeschwert Konzerte und Bälle. Zudem überrascht Selma die Familie mit der Ankündigung, dass sie nun den Führerschein besitzt. Dann sagt ihr Verlobter seinen Besuch in Baden-Baden ab und überlässt ihr seinen schicken neuen Audi. Gemeinsam mit Bruder Gero unternimmt sie Ausflüge in die Umgebung. Als der Motor ihres Autos defekt ist, hilft ihr Constanze Weißkirchner. Selma ist verblüfft, dass sich eine Frau mit Automotoren auskennt. Constanze ist in der Maschinenfabrik ihres Vaters beschäftigt und möchte Ingenieurin werden. Die beiden jungen Frauen freunden sich an und dehnen ihre Ausflüge bis nach Frankreich aus. Im Elsass lernt Selma den französischen Fotografen Robert Beck kennen und verliebt sich in ihn. Bald darauf kehrt Selma nach Berlin zurück und nimmt ihr bisheriges Leben wieder auf. Sie besucht gemeinsam mit Gero Kinos und Ballhäuser. Selma scheint ihr Glück wiedergefunden zu haben. Sie trifft sich oft mit Freundin Constanze, die mittlerweile an der Technischen Hochschule studiert. Dann tritt plötzlich wieder Robert in ihr Leben, der für eine französische Zeitung in Berlin arbeitet. Nun steht Selma zwischen zwei Männern. Es dauert nicht lange, bis sie schwanger ist und eine Tochter, Alma, zur Welt bringt. Selma und Gero heiraten. Wieder verbringt sie mit Alma und den Eltern die Sommerfrische in Baden-Baden. Man schreibt den August 1914 und der erste Weltkrieg bricht aus. Ihr Bruder Grischa ist mittlerweile Pilot der Königlich-Preußischen Fliegertruppe und ihr Mann Gero, deutschnational gesinnt, meldet sich zur Armee. Ein Jahr später wird Gero nach einem Einsatz vermisst. Selma ist verzweifelt und begibt sich gemeinsam mit Constanze und Robert auf die Suche nach ihm. Mit Hilfe von Roberts Freunden findet Selma ihren Mann in der Nähe von Verdun. Sie bringt ihn in die Schweiz, aber Gero geht zurück an die Front. Er fällt wenig später und Selma weiß nicht, ob sie Robert wiedersehen wird. In dieser Zeit beginnt sie wieder, unter einem Pseudonym Romane zu schreiben.

Heidi Rehn ist durch ihre historischen Romane, die alle im Mittelalter spielen, bekannt geworden. Mit Der Sommer der Freiheit legt sie den ersten Roman jüngerer Geschichte vor. Die Autorin beginnt ihre Erzählung im August 1913, im mondänen Kurort Baden-Baden. Hier ist die Welt der besser gestellten Gesellschaft in Ordnung. Das wird am Beispiel der Hauptprotagonistin Selma und ihrer Familie deutlich. Viele Menschen blicken optimistisch in die Zukunft. Sie leben in einer Phase durchgreifender Veränderungen. Anfang des 20. Jahrhunderts wird der enorme technische Fortschritt deutlich spürbar. Pferdekutschen werden von Automobilen abgelöst, Luftschiffe erscheinen am Himmel, es gibt Telefone und Telegraphen. Die Welt verändert sich in einem atemberaubenden Tempo. Frauen haben mehr Rechte, sie kleiden sich in Hosenröcke, tragen moderne Frisuren, lenken ein Auto wie Selma. Wieder hat Heidi Rehn interessante Charaktere in den Mittelpunkt ihres Romans gerückt. Selma sprüht vor Lebensfreude, ist selbstbewusst, mitunter ein wenig frech und rebellisch. Sie verkörpert den Aufbruch in eine neue Zeit. Unterstützung erfährt sie durch ihre Oma Meta, die sich für Frauenrechte einsetzt und ihrer Zeit weit voraus ist. Im Gegensatz zu Selmas Mutter Hedda, die an Altbewährtem festhält. Der ruhige Pol in der Familie ist Vater Joseph. Der Leser begleitet Selma und Gero bei ihren Vergnügungen in der Reichshauptstadt Berlin. Diese Phase der Erzählung ist teilweise etwas weit gefasst und mitunter langatmig. Hier wäre etwas weniger mehr gewesen. Dann trifft Selma in Berlin den französischen Fotografen Robert wieder. Sie verliebt sich erneut in ihn, aber er wird bald zu den Feinden Deutschlands zählen. Kurz darauf bricht nämlich der 1. Weltkrieg aus. Diese Thematik hat die Autorin nicht in den Mittelpunkt der Erzählung gestellt, sondern an bestimmten Stellen einfließen lassen. So konzentriert sich der Leser mehr auf die gesellschaftlichen Umwandlungen dieser Zeit und auf das nicht unkomplizierte Privatleben Selmas. Aber auch sie wird mit dem Kriegsgeschehen konfrontiert, als Ihr Mann Gero vermisst wird und später fällt. Selma muss schmerzlich erfahren, wie sehr der grausame Krieg Gero verändert hat. Aus dem überzeugten kaisertreuen Offizier ist ein entschiedener Kriegsgegner geworden. Der Schreibstil ist flüssig und hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Die Orte Baden-Baden und Berlin werden so lebendig und voller Atmosphäre dargestellt, dass ich mich in diese Zeit hineinversetzen kann. Ich würde mich über eine Fortsetzung des Romans freuen.