Berührend und erschreckend

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Claire Léos’ Roman hat mich direkt gekriegt, ich habe das Buch kaum aus der Hand gelegt. Es war direkt dieses Gefühl: Da braut sich was zusammen. Nicht laut, nicht dramatisch, aber intensiv. Die wilde windige Kulisse in der Bretagne voller ungesagter Dinge und mittendrin ein Beziehungsgeflecht, das sich immer enger zieht, bis fast nichts mehr geht, haben das Buch für mich zum wahren Pageturner gemacht.
Odettes Geschichte ging mir besonders unter die Haut. Die alte, meckernde, total unsympathische Dorfladenbesitzerin wird so nahbar durch den Blick in ihre Vergangenheit. Ihr Leben ist geprägt von Verlust, Gewalt und Schweigen. Und doch wirkt sie so stark, wenn auch vom Leben gezeichnet und hart geworden.
Zwischen all dem baut sich ein Dreieck auf, das man eigentlich nicht mitansehen will und trotzdem Seite um Seite mitverfolgt. Marguerite, die neue Lehrerin aus Paris, sucht nicht nur ihre Wurzeln, sondern rührt auch ordentlich im Gefühlsleben des Dorfes rum. Hélène, gerade sechzehn, fühlt sich von Raymond, berühmter Schriftsteller und Marguerites Mann, angezogen. Und Marguerite? Die beginnt ausgerechnet mit Yannick, Hélènes Freund, eine Affäre. Uff. Das ist genau die Sorte Verstrickung, bei der man beim Lesen denkt: „Nein, nein, nein… oh, okay. Doch.“
Die Sprache ist dabei kein bisschen kitschig oder übertrieben. Eher knapp, genau beobachtend, mit diesen Sätzen, die einem plötzlich unter die Haut gehen. Die verschiedenen Zeitebenen, vom Krieg bis in die 90er, haben das Ganze für mich noch intensiver gemacht. Man merkt einfach: Hier ist nichts zufällig. Die Figuren haben Tiefe, Ecken, Schatten.
Zum Ende möchte ich nicht viel sagen. Nur dass mich der Roman mit einer tiefen Traurigkeit ob er Lebenswege seiner Figuren zurückgelassen hat…