Melancholischer Roman, der viele Themen aufgreift, aber leider sein Potential nicht ganz ausschöpft kann

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luisabella Avatar

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»Wieso zieht uns, wo ein friedliches Glück uns einladend die Hand hinstreckt, so oft das Abgründige, Seltsame, Schwierige an?« Hélène 💭💔 (S. 102)

»Der Sommer, in dem alles begann« von Claire Léost, übersetzt aus dem Französischen von Stefanie Jacobs & Jan Schönherr, ist ein Roman über das Leben in der Bretagne und das Schicksal von drei Frauen: Odette, Marguerite und Hélène.

Die früh verwitwete Odette betreibt in dem kleinen Ort in der Bretagne einen Krämerladen und hat die junge Hélène aufwachsen sehen. Als die junge Schülerin 1994 eine neue Lehrerin aus der Hauptstadt bekommt, wird durch diese das Interesse von Hélène an Literatur unterstützt. Diese Lehrerin wiederum — die Pariserin Marguerite — sucht an diesem kleinen Ort nicht nur nach dem gemeinsamen Familienglück mit ihrem Schriftsteller Ehemann und Adoptivtochter Lilly, sondern vor allem nach Spuren ihrer unbekannten Mutter.

»Hélène spürt, wie der Riss zwischen ihnen zur Kluft wird. Er hat überhaupt kein Interesse daran, die Welt zu entdecken. Trotz des Unterrichts bei Marguerite, trotz all der Bücher und der Philosophie, wird er die Apotheke übernehmen, und sein Leben wird unbeirrbar in seiner Bahn bleiben wie der Rivière d'Argent in seinem Flussbett. Sie denkt an ihren Vater, der oft sagt: »Geh unbedingt arbeiten, verdiene deine Brötchen selbst, wie deine Großmutter und deine Mutter, und mach dich vor allem nie abhängig von einem Mann.«« (S. 100)

In einer sehr nüchternen, zeitweise schönen, melancholischen Sprache erzählt der Roman auf verschiedenen Zeitebenen von den drei Protagonistinnen, die alle ihr eigenes Päckchen im Leben zu tragen haben. Trotz schönen Stils, der geschichtlichen Hintergründe und der authentischen Beschreibung der Bretagne der 1990er Jahre springt für mich der französische Vibe nicht über und der Roman erreicht mich emotional leider nicht. Es werden wirklich einige und auch wichtige Themen (u. a. Vergewaltigung, Fremdenfeindlichkeit, Paris - Bretagne - Unterschiede, Bretonische Kultur & Druiden, Hirntumor, Tod, Lokalpatriotismus und und und) in diesem Roman aufgegriffen, aber aus meiner Perspektive viel zu oberflächlich behandelt. Gerade dies hätte dem Roman viel Tiefe und Einfühlungsvermögen geben können, aber dieses Potential konnte aus meiner Sicht leider nicht genutzt werden. Alles in allem ein interessante Lektüre, die wichtige Themen streift, aber zu oberflächlich bleibt.

Wer sich mit diesen wichtigen, aber sicherlich nicht einfachen Themen vor dem Setting der schönen Bretagne auseinandersetzen möchte, für diese Personen wird dies sehr passend sein.