Alles Gute kommt von oben?

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mittelhessin Avatar

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Luisa, genannt Lulu, kam unmittelbar 4 Stunden nach ihrer Geburt wirklich von oben aus dem Krankenhausfenster heruntergeplumpst, geradezu in die Arme von Fergus. Ihre Mutter Aza hat sie fallen lassen, ob absichtlich oder ungewollt, bleibt zunächst unbeantwortet - aber sie hat sich dann aus dem Staub gemacht, ist irgendwo im Nirgendwo verschwunden. So wächst Lulu zusammen mit ihrem Vater in einer WG auf, mit teilweise sehr skurrilen Typen. Auch ihr Lebensretter Fergus zieht kurz nach der Geburt in die WG und ist Lulu neben ihrem sehr liebevollen Vater ein treuer Weggefährte, der stets da ist, wenn Hilfe gebraucht wird. Durch einen Zwischenfall ändert sich das WG-Leben schlagartig, Paul erhält einen Hinweis auf den Verbleib von Aza und Luisa muss sich mit der Tatsache vertraut machen, dass ihre Mutter keine Flügel hat und nicht hinter der Milchstraße lebt sondern real existiert.

Die Wege der WG-Bewohner trennen sich, der von Paul und Luisa führt nach einem Umweg durch das bayerische Hinterdingen, wo Azas Vorfahren her kamen, bevor sie nach Brasilien ausgewandert sind, nach Sao Paulo. Hier nimmt Paul eine Referendarstelle an und Luisa besucht die Schule. Aber erst als Fergus zu Besuch kommt und bei der Suche nach Aza mithilft, kommen die Dinge ins Rollen.

Die Autorin, Stefanie Kremser, hat selbst deutsch-bolivianische Wurzeln und verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in Sao Paulo, bevor sie nach Deutschland kam, um zu studieren. Daher sind die Schauplätze des Buches sehr lebendig und authentisch beschrieben; auch die Charaktere werden sehr liebevoll und detailliert beschrieben, sei es die fröhliche Lulu, der stets hilfsbereite und treue Fergus, der aber in Herzensangelegenheiten etwas tollpatischig ist oder Lulus Vater Paul, der sich rührend um seine Tochter kümmert und das Verschwinden von Aza nie begriffen oder überwunden hat.

Um Azas Reise zu verstehen, ist es wichtig, ihre Herkunft zu kennen - die Vorfahren kamen vor über 100 Jahren aus dem bayerischen Hinterdingen und landeten nach einer überaus beschwerlichen Reise schließlich in Brasilien, wo sie sich, von der Außenwelt mehr oder weniger isoliert, in einem abgeschiedenen Tal niedergelassen haben. In Retrospektive erfährt der Leser sowohl über diese Auswanderung als auch über Azas Suche nach ihren Wurzeln. Die teilsweise sehr akribisch beschriebenen verwandtschaftlichen Verhältnisse sind vielfach schwer zu verstehen. Auch werden hin und wieder Begebenheiten in der Zukunft vorweggenommen mit Sätzen wie "Dazu kommen wir noch" oder (sinngemäß) "Das sollte ich erst später verstehen".

Der Schreibstil ist frisch und einladend, es gelingt mühelos, in die Geschichte einzutauchen - allerdings nehmen die sehr ausschweifenden Schilderungen der verwandtschaftlichen Beziehungen und die doch sehr umfangreiche Retrospektive auf die Geschehnisse für über 100 Jahren zu viel Raum ein, gemessen an dem eher knapp geratenen Ende der Geschichte, wo Paul, Lulu und Aza zusammentreffen. Die Gründe für Azas Verhalten nach ihrem Verschwinden unmittelbar nach der Geburt von Lulu aber auch ihr späteres Verhalten ihren brasilianischen Verwandten gegenüber bleibt ein Stück weit rätselhaft - auch die Beschreibung der Gefühlswelt von Paul und Lulu nach dem Zusammentreffen wird der Tragweite des Anlasses nach meinem Geschmack nicht gerecht. Am Ende bleiben einige Fragen offen, der Schluss des Buches hat mich leider nicht vollständig überzeugt.