Ungewöhnlicher und nahegehender Familienroman

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Eine ziemlich bizarre Situation steht am Beginn dieses Romans: Eine junge Mutter wirft ihr Neugeborenes aus dem Fenster der Neugeborenenstation im 5. Stock eines Krankenhauses und verschwindet. Ein zufällig vorbeigehender Rugbyspieler fängt das Mädchen auf - es ist unverletzt. Der Vater des Neugeborenen nimmt es mit in seine Studenten-WG, in die auch der Rugbyspieler bald einzieht. Das klingt alles ziemlich an den Haaren herbeigezogen, ist aber der Einstieg in einen handwerklich gut gemachten Familienroman. Es geht international darin zu, denn die Mutter ist Brasilianerin, der Rugbyspieler Brite und der Kindsvater Deutscher.

Der Hintergrund der Geschichte ist ebenfalls international, denn es geht um die Auswanderung armer deutscher Landarbeiter nach Amerika und deren Folgen bis in die Jetztzeit hinein. Dies erfahren wir Leser nach einer ausführlichen Beschreibung der ersten sieben Lebensjahre der Protagonistin in der WG ihres Vaters. Denn sie entwickelt den Wunsch, ihre Mutter Aza zu suchen. Doch während der Leser und die kleine Louisa immer brennender daran interessiert sind, die Beweggründe für Azas Tat zu verstehen, erfahren wir von der Autorin viele Details zu den Lebensbedingungen der deutschen Auswanderer, wie sie vor der Armut der Heimat flohen und welche Schwierigkeiten sie bei der Eingewöhnung in Amerika hatten.

Sicherlich werden sich an diesem Roman die Geister scheiden. Manch einem Leser wird die Beschreibung von Louisas bisheriger Kindheit zu lang und die Familiengeschichte zu ausführlich beschrieben sein. Gerade nach dem dramatischen Einstieg ist damit ja auch nicht zu rechnen gewesen. Mir persönlich aber gefällt die anrührende Story zu einem Thema, mit dem ich mich noch nie beschäftigt habe.

Die Sprache des Buches ist sehr schön, die Sätze sind so liebevoll formuliert, dass mach einer auch Eingang in ein Lyrikwerk nehmen könnte. Dialoge sind rar und machen den besonderen Charme des Buches aus. Die Beschreibungen sind so farbig, dass ich die handelnden Personen quasi vor meinem geistigen Auge sehe. Etwas gewöhnungsbedürftig war für mich eine anfangs erst weinige Stunden alte Ich-Erzählerin, aber gestört hat es mich nie. Störender fand ich - nach den sehr ausführlichen Schilderungen der ersten Lebensjahre Louisas und den Exkursen in die Familienhistorie - dass das Ende sehr kurz formuliert war. Wollte die Autorin endlich mit dem Manuskript fertig werden? Gingen ihr die Ideen aus? Ging es ihr in Wirklichkeit gar nicht um Louisas Geschichte, sondern um die ihrer ausgewanderten Vorfahren? Schade, wenn die Autorin den Level der ersten drei Viertel hätte halten können, wären das glatte fünf Punkte gewesen. So bleibe ich etwas unbefriedigt zurück.

Übrigens: Wie es dazu kam, dass die nur wenige Stunden alte Louisa aus dem 5. Stock in die Tiefe fiel, verrate ich natürlich nicht.