Aussicht auf Regen

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buecherfan.wit Avatar

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Am 5. August 1962 starb nicht nur Marilyn Monroe - von daher der irreführende deutsche Titel -, sondern auch unter zunächst ungeklärten Umständen Lucy, die Mutter der Ich-Erzählerin Ethie, die damals 11 Jahre alt war. Zur Familie gehören noch Lucys Mann Howard Coulter, der 20jährige Sohn Frankie und der 14jährige Bruder Christopher Adam - genannt Kipper -, der am Down-Syndrom leidet. Die Coulters leben in einer Veteranensiedlung in Fraserview in West Vancouver. Die Situation war schon vor Lucys Tod schwierig, denn Howard Coulter ist anders als andere Väter. Er hatte sich im 2. Weltkrieg als 20jähriger zusammen mit seinem besten Freund Gordie freiwillig gemeldet und war vier Jahre später schwer traumatisiert aus japanischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Seitdem leidet er unter Alpträumen und Absencen und ist Alkoholiker. Nur lange Wanderungen im regenreichen Vancouver helfen ihm, Krisen zu überwinden und zu einem halbwegs normalen Leben zurückzufinden. (Von daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass Regen in diesem Roman eine ganz besondere Rolle spielt: es regnet praktisch ständig). Durch Lucys Tod verliert Howard völlig den Halt. Lucys kinderlose Schwester Mildred will helfen, tut tatsächlich aber alles, um die Familie auseinander zu reißen. Es dauert einige Zeit, bis sie begreift, wie sehr die Kinder ihren Vater lieben und wie viel Halt sie aneinander finden.

Von Anfang an gibt es eine Reihe von Hinweisen auf ein Geheimnis, das Howard für sich behält. Er hat mit niemand über die Zeit der Gefangenschaft gesprochen. Nach Lucys Tod taucht in der Nähe des Hauses eine junge Chinesin auf, die am Tag ihres Todes mit der Mutter zusammen gesehen worden war. Howard reagiert verstört, sagt aber noch immer nichts, und Ethie beginnt Nachforschungen anzustellen.

Die Tragödie entfaltet sich auf zwei Zeitebenen. Da ist einmal die Erzählgegenwart, die mit dem Tod der Mutter einsetzt und über die aus der Perspektive des Kindes berichtet wird. Diese Kapitel wechseln ab Kapitel 9 mit dem Bericht über Howards Kriegseinsatz ab, beginnend mit der Einschiffung auf Hawai. Über die Kriegsjahre berichtet ein Erzähler in der dritten Person. Der Autorin gelingt es, in beiden Erzählsträngen große Spannung aufzubauen und bis zum Ende durchzuhalten. Natürlich weiß der Leser, dass Howard überlebt hat - Lucy stirbt gut 16 Jahre nach seiner Rückkehr -, aber das Schicksal der anderen Figuren bleibt lange ungewiss. Milner beschreibt mit einer Fülle von Einzelheiten die verlustreichen Kämpfe, die Leiden der Kriegsgefangenen, vor allem die physische und psychische Gewalt, der die Gefangenen jahrelang ausgesetzt sind und die Situation der hungernden Flüchtlinge in Hong Kong. Stück um Stück wird das Geheimnis enthüllt. Hat Howards Schweigen mittelbar Lucys Tod verursacht?

Donna Milner beschreibt die Tragödien, die sich auf beiden Zeitebenen entfalen. Nicht immer gelingt ihr dabei die Gratwanderung zwischen Tragik und Melodram so gut wie in ihrem ersten Roman “River”. Dennoch ist “Der Tag, an dem Marilyn starb” ein überaus bewegender Roman, der den Leser so fesselt, dass er ihn kaum aus der Hand legen kann.