Spannnender Kriminalfall im brodelnden New York

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marionhh Avatar

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New York, 1845: Als Barmann Timothy Wilde in einer Feuerkatastrophe nicht nur einen Teil seines guten Aussehens, sondern auch seine ganzen Ersparnisse verliert, nimmt er notgedrungen den Job bei der neu gegründeten Polizeitruppe New Yorks an, den ihm sein Bruder Valentine verschafft hat. Die Truppe ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen bestehend aus Dieben, Rowdys, Einwanderern – eben Leuten, die sonst nichts zu verlieren haben. Als Tim seinen Stern eigentlich schon Polizeichef Matsell vor die Füße werfen will, läuft ihm ein mit einem blutigen Nachthemd bekleidetes, völlig verstörtes kleines Mädchen in die Arme. Bird Daly ist offensichtlich eine kleine Irin und muss furchtbare Dinge erlebt haben. Nach und nach kommen immer mehr schreckliche Wahrheiten ans Licht, und Bird führt Tim und seinen Polizeichef zu einem Massengrab von insgesamt 19 mehr oder weniger verwesten kleinen Kinderleichen. Die Spur führt zur Bordellwirtin Silkie Marsh – was verbirgt sie?

Dann tauchen merkwürdige Briefe auf, die die irischen Einwanderer und ihren Glauben verteufeln und die mit „Die Hand Gottes von Gotham“ unterzeichnet sind. Nun scheint klar, dass hier offensichtlich in Irrer am Werke ist, der die Stadt vom Übel des Katholizismus befreien will. Dann geschieht ein weiterer grausamer Mord an einem Jungen, der weithin sichtbar in einer katholischen Kirche ans Kreuz genagelt wird, die Presse bekommt ebenfalls Wind davon, und es kommt zu Aufständen und Unruhen in der Stadt. Tim hat alle Hände voll zu tun, um dem Chaos Herr und dabei nicht selbst umgebracht zu werden und nebenbei den Fall zu lösen...

Vergesst Sherlock Holmes und Dr. Watson, vergesst Jack the Ripper und das neblig-kalte London! Timothy Wilde und sein schwüles New York sind die neuen Sterne am Himmel historischer Krimis, und der erste Fall für das NYPD hat es wahrlich in sich! Eingebettet in einen historischen Kontext, wie er aufregender kaum sein könnte, ist der Autorin ein Buch gelungen, das man als Leser nicht mehr aus der Hand legen kann und bei dem man Gefahr läuft, alles um sich herum (einschließlich Bahnhaltestellen, an denen man aussteigen sollte) zu vergessen. Man taucht ab in die faszinierend-schaurige New Yorker Unterwelt, lernt jede Menge Gaunersprache und unfassbare Armut und Verzweiflung, aber auch Hilfsbereitschaft und Zuneigung kennen. Unglaublich gut recherchierte historische Hintergründe, belegt durch Passagen aus Texten jener Zeit, verdeutlichen die Zustände und die Stimmung jener Zeit und machen den Roman dicht und glaubwürdig. Basierend auf historischen Tatsachen wie z.B. die Gründung der ersten Polizeitruppe, die Zustände der Stadt, die aufgeheizte Stimmung gegen die irischen Einwanderer, die New York überschwemmen, ist dieses Buch ein äußerst gelungenes Zusammenspiel von Geschichte und komplexem Kriminalfall.

Zusätzliche Würze verleiht dem Ganzen die durch die Bank weg sehr interessanten Charaktere, allen voran der des Timothy Wilde, ein Mann, der den ersten Fall der New Yorker Polizei in der Ich-Form niederschreibt. Er lässt dabei auch nicht seine eigenen Kindheitstraumata aus, ebenso wenig wie seine Hassliebe zu seinem Bruder Valentine und seine unerfüllte Liebe zur Pfarrerstochter Mercy Underhill. Nebendarsteller gibt es eigentlich gar nicht, jeder Protagonist hat seine tragende Rolle und trägt mal mehr, mal weniger Wesentliches zur Aufklärung des Falles bei. So sichert sich Tim nicht nur die Hilfe seines gerissenen Kollegen Piest, sondern auch die der Zeitungsjungen und nicht zuletzt einiger zwielichtiger Gestalten aus der Unterwelt. Zugute kommt ihm dabei aber auch die harte Schule, durch die er als Kind gegangen ist, die Armut, die Prügeleien mit seinem Bruder und die Gaunersprache, die er von diesem gelernt hat. Seine erstaunliche Beobachtungsgabe und sein analytischer Verstand tun ihr Übrigens, diesen äußerst verschachtelten und verwirrenden Fall lösen zu können. Schnell ist dem geneigten Krimileser klar, dass es hier keine einfache Lösung geben kann.

Ganz nebenbei erfährt man aber auch einiges über den Schmelztiegel New York nur knapp 70 Jahre nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Die Bevölkerungszahlen der Stadt haben sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts nahezu vervierfacht, Amerikaner nennen sich längst nicht alle Einwohner. Die nationalen Gruppen wie Deutsche, Holländer, Iren bleiben unter sich und begegnen einander weitgehend mit Misstrauen. Zusätzlich schüren protestantische Nationalisten verstärkt die Angst vor den irischen katholischen Einwanderern, da diese aufgrund der Hungersnot in Irland in jener Zeit in besonders hoher Zahl einwandern. Ganz Amerika befindet sich in Aufbruchstimmung, beginnende Industrialisierung und die Erschließung des Kontinents führen zu Wachstum, aber auch zu Verelendung in den Städten. Straßenschlachten und Bandenkriege besonders in den Elendsvierteln wie Five Points sind die natürliche Folge (übrigens auch sehr schön dargestellt im Film Gangs of New York). Die dadurch immer größer werdende Kriminalität führt schließlich zur Gründung des NYPD, dessen unwilliger Angestellter Timothy Wilde wird.

Wilde wandelt sich aber nicht nur vom träumerischen sinnlos-verliebten Barmann zum eiskalten, analytischen Ermittler. Faszinierend genug, wie er sich in seinen Fall verbeißt und – sicherlich auch mit viel Hilfe seiner kleinen Freundin Bird Daly – aber doch hauptsächlich mit kriminalistischem Spürsinn alle Knoten auflöst. Auch über seinem Bruder und andere ihm nahe stehende Menschen erfährt er einige unangenehme Wahrheiten und muss sich entscheiden, ob er diese verteufelt oder ihnen verzeiht. Durch seine Entscheidungen in der Hinsicht erhalten alle seine Beziehungen eine völlig neue Qualität.

Fazit: Ein rundum gelungenes Romandebüt, ein Buch, das das Genre neu definiert und Lust auf Mehr macht. Nicht nur, dass man als Leser vom eigentlichen Kriminalfall gefesselt ist, man liest mit ebenso großer Faszination über die historischen Hintergründe und möchte hierzu am liebsten noch mehr erfahren. Die Autorin verbindet immenses Hintergrundwissen mit großer Erzählkunst. Mit allergrößter Freude habe ich gelesen, dass dies der Auftakt zu einer Serie ist und dass Tim also noch mehr Arbeit bekommt. Ich kann es kaum abwarten!