Eine prall gefüllte, farbenfrohe Abenteuergeschichte

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Wenn ihre Vermutung richtig war, dann war der Aussätzige direkt aus dem Meer geradewegs den Schiffsrumpf hinauf bis zu ihrer Fensterluke gestiegen. Auszug Seite 238

Mitte des 17. Jahrhunderts sticht eine Flotte von 7 Schiffen der Vereinigten Niederländischen Ostindien-Kompanie von Batavia in See. Ankunftsziel ist nach 8 Monaten beschwerlicher Fahrt Amsterdam. Hauptschauplatz des Romans ist die Saardam, auf der Generalgouverneur Jan Haan mit großer Entourage reist: Leibwache, seine Ehefrau Sara Wessel, die gemeinsamen Tochter und seine Geliebte sind mit an Bord. In Amsterdam soll Haan einer der „Siebzehn Herren“ werden, die das Direktorium der Ostindiengesellschaft bilden. Den Frachtraum füllen Schweine und Kühe, Weidenkörbe mit krächzenden Hühnern, Kisten mit Gewürzen, Seidenstoffen, darunter auch welche, deren Inhalt der Gouverneur sorgfältig geheim hält. Ebenfalls an Bord sind der berühmte Meisterdetektiv Samuel Pipps und sein Leibwächter und Freund, der Söldner Arent Hayes. Pipps hatte für Haan einen gestohlenen Schatz wieder gefunden, war aber danach in Ungnade gefallen und reist jetzt als Gefangener nach Amsterdam, wo ihm der Prozess gemacht werden soll.

Der alte Tom
Unmittelbar bevor die Saardam in See sticht, wird das Schiff von einem in blutige Lumpen gehüllten Aussätzigen verflucht, der nach seiner Prophezeiung in Flammen aufgeht und qualvoll verbrennt. Die Umstehenden können ihm nicht mehr helfen und nur noch feststellen, dass man der armen Kreatur die Zunge rausgeschnitten hatte. Trotz großer Verunsicherung auf Seiten der Passagiere tritt die Saardam ihre Reise an. Schon kurz nach dem Auslaufen geschehen unheimliche Dinge an Bord. Auf den Segeln wird ein bedrohliches Zeichen entdeckt. Das Auge mit Teufelsschwanz gilt als das Zeichen des „Alten Tom“ – eine Inkarnation des Teufels, der schon vor 30 Jahren in den Provinzen für großes Blutvergießen sorgte. Absonderliche Gewaltakte gipfeln in Morden und ein Flüstern weht durch das Schiff, das alle an Bord verführen möchte, ihren dunkelsten Wünschen nachzugeben. Es entsteht eine explosive Gemengelage aus verängstigten Passagieren, gesetzeslosen Matrosen und die von Haan als Leibwache mit an Bord genommenen kampferprobten Musketieren. Die Suche nach der Wahrheit wird zum Wettlauf mit der Zeit, denn der „Alte Tom“ bringt nach und nach das Schiff in seine Gewalt und der angekündigte Untergang scheint unabwendbar.

Der Bär und der Spatz
Arent Hayes wird mit Ermittlungen beauftragt, um den Dämon zu finden, der sich unter die Passagieren oder die Besatzung gemischt habe könnte. Dabei ist er ganz alleine auf sich gestellt, da Pipps in Ketten in ein dreckiges Loch geworfen wird. Es fällt ihm schwer, diese Rolle anzunehmen, denn mit seiner großen massigen Statur war er immer nur der Mann fürs Grobe und Pipps mit seinem detektivischen Scharfsinn galt als das Brain. Der Bär und der Spatz werden sie von allen genannt, denn Arent ist fast doppelt so groß wie der hochintelligente aber eitle Sammy. Für mich ist Arent Hayes auf jeden Fall die interessantere Figur. Kompetente Hilfe findet Hayes in der resoluten Sara Wessels, die an seiner Seite das Schiff und ihrer aller Leben retten will.

Dem Autor gelingt es mit wenigen Pinselstrichen prägnante Charaktere zu erschaffen, die ihre eigene Motivation und Geheimnisse haben. Man erhält auch Einblicke in ihre Vergangenheiten. Diese sind auch nötig um die Auflösung zu verstehen, wenn sich im Finale alle Teilinformationen zu einem großen Ganzen fügen. Es gibt abergläubische und religiöse Passagiere, intrigante Adelige, verschlagene Seeleute, mit Jan Haan einen machtgierigen, frauenverachtenden Tyrannen und einige starke weibliche Charaktere.

Auch wenn auf dem Cover Kriminalroman steht, verspricht die optische Umschlaggestaltung mit dem Anker und Kompass auf grün-blauen Wellen genau das was man bekommt: Eine farbenfrohe Abenteuergeschichte, einen prall gefüllten Spannungsschmöker auf hoher See und durch den eingeschränkten Handlungsspielraum auch ein maritimes Kammerspiel. Schiffsreisen zur damaligen Zeit waren alles andere als komfortabel. Die vielen realistischen Details sorgen dafür, dass man die klaustrophobische Enge und Finsternis im Innern des Schiffes nachempfinden, die rauen Wellen spüren, die Seeluft und den Gestank riechen kann. Für den Leser ist diese Schifffahrt allerdings ein großes Vergnügen, ein großer Spaß, es hätte für mich noch düsterer sein können.

Es war eine ölige Dunkelheit, die mit einem Geruch nach Bilgenwasser, Sägemehl, Gewürzen und Fäulnis angefüllt war. Von der Decke tropfte Wasser auf die herumstehenden Kisten herab. Es kam ihr so vor, als würde jeder elende Gedanke, der den Menschen oben an Deck durch die Köpfe ging, durch das Schiff sickern und sich hier unten sammeln. Auszug Seite 266

Stuart Turton liebt es, jede Menge Seemannsgarn zu spinnen und obwohl er die geschichtlichen Ereignisse dieser Zeit gründlich recherchiert hat, fühlt er sich nicht der Historie verpflichtet. In seinem Roman stehen die Fiktion und nicht die historischen Fakten im Vordergrund. Zusätzlich zu einer Karte vom Schiff am Anfang des Buches gibt es auch ein Personenregister mit Namen und Rang der wichtigsten Personen ähnlich wie bei seinem Debüt-Roman. Und genau wie in „Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle“ versteht es der britische Autor, mit einem nie versiegenden Quell an Kreativität, aber auch mit einer großen Leichtigkeit verschiedene Genres zu verknüpfen sowie mit vielen unheimlichen Andeutungen Schrecken zu vermitteln. Ein fesselnder, historischer Kriminalroman und spannender Rätselkrimi mit einer guten Portion Witz.

Mit dem Auftauchen eines Geisterschiffes musste ich tatsächlich an „Fluch der Karibik“ denken.