Atmosphärisch, aber nicht überraschend

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Kurz vor ihrer Hochzeit wollen Julia und ihre ehemalige beste Freundin Nicki gemeinsam den schwedischen Kungsleden erwandern. Nach einer stürmischen Nacht im Zelt ist Nicki verschwunden und Julia bleibt ohne Ausrüstung, Orientierung oder Kontakt zur Außenwelt zurück. Während Julia sich durch die raue Wildnis kämpft, erzählt ein zweiter Handlungsstrang mehr über die gemeinsamen Hintergründe, über Nicki und über Julias Verlobten Lars.

Rebecca Russ schreibt ihren Psychothriller mit wechselnden Perspektiven und Zeitebenen. Die Gegenwart wird aus Julias Sicht erzählt, die Vergangenheit durch eine zweite Stimme, die zunächst unklar bleibt, aber geübte Lesende wohl schnell richtig zuordnen werden. Der Wechsel zwischen Ich-Erzählerin und Tagebuch-/Rückblickpassagen funktioniert grundsätzlich gut, wenn auch die Spannung nicht durchgängig hoch ist. Der eher schlichte Stil ist flüssig zu lesen, wirkt in manchen Momenten aber auch emotional etwas flach. Die Natur allerdings wird sehr bildhaft und greifbar geschildert. Russ liefert eine durchdachte, wenn auch nicht in jeder Hinsicht überraschende Handlung. Wer viele Thriller liest, wird den Großteil der Wendungen, einschließlich des Finales, recht früh erahnen.

Es gibt im Grunde nur drei Charaktere: Julia, Nicki und Lars. Dabei legt Russ den Fokus besonders auf die psychologische Dynamik zwischen Julia und Nicki, zwei Freundinnen, die sich entfremdet haben, aber durch die gemeinsame Vergangenheit verbunden bleiben. Die Motive Schuld, Verlust und emotionale Abhängigkeit sind interessant, werden aber nicht durchgängig mit der nötigen Tiefe behandelt. Gerade Julia bleibt über weite Strecken passiv und naiv, was es teils schwer macht, sich mit ihr zu identifizieren. Nicki hingegen wirkt bewusst undurchsichtig und bleibt eher unvollständig als Figur.

Die Ähnlichkeit zu Ulf Kvenslers "Der Ausflug", der schon vor einem Jahr auf Deutsch erschienen ist und von einer ähnlichen Wanderung in Nordschweden handelt, fällt auf. Russ muss sich hier mit dem Nachteil herumschlagen, nicht die Erste mit dieser Idee zu sein. Im direkten Vergleich gelingt es Kvensler deutlich besser, die psychologische Dimension von Wanderung und Figuren zu vermitteln. Dort waren die Gefühle stärker, die Figuren besser und die Spannung höher. Bei den bildhaften Naturbeschreibungen sind sich beide Autoren absolut ebenbürtig, auch wenn sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Beiden nehme ich die raue Wildnis komplett ab.

Insgesamt ist "Der Weg" ein solider Psychothriller mit starker Naturkulisse und interessanter Grundidee. Die Atmosphäre stimmt, das Setting überzeugt und die Erzählstruktur funktioniert. Doch für geübte Thriller-Lesende bleibt die Geschichte vorhersehbar und die Figuren etwas blass.