Ein Roman um Kolonialismus und kulturelle Aneignung mit einem mythischen Felsen als stummen Zeugen

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annajo Avatar

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Ein weißer Fels vor der Küste Mexikos. Den Legenden der Wixárika nach ist er als die erste feste Form der Welt aus dem Meer gestiegen. Als stiller, stoischer Beobachter hat er zahllose menschliche Schicksale bezeugt.
Vier davon werden, einen Zeitraum von 250 Jahren umspannend, hier miteinander verknüpft. Da ist die Schriftstellerin, die sich im Jahr 2020 auf einer Reise durch Mexiko befindet, zu den heiligen Orten der Wixárika, um sich bei den Göttern zu bedanken. Jahre zuvor hatte sie um ein Kind gebeten. Dieses ist nun 3 Jahre alt und befindet sich mit ihr auf der Reise, die am Weißen Fels ihr Ende finden soll, genauso wie die Ehe der Schriftstellerin. Da ist 1969 ein Sänger, der in den USA ein gefeierter Star ist, sich aber eigentlich nach Ruhe sehnt und sich ungestört Alkohol und Drogen hingeben will. Am Weißen Fels hofft er auf irgendeine Erleuchtung. 1907 ist da ein Mädchen, eine Ureinwohnerin der Gegend von Arizona auf einem Deportationsschiff, für die der Weiße Fels die Unumkehrbarkeit ihrer Reise und ihres Schicksals als Sklavin bedeutet. Und schließlich ist da 1775 ein Marineleutnant auf dem Weg nach Nordamerika, um das Land zum Eigentum seines Königs zu erklären, doch am Weißen Fels verliert er den Verstand.
All diese Menschen stehen irgendwie am Abgrund. Die Schriftstellerin fürchtet den gesellschaftlichen Zusammenbruch am Vorabend der weltweiten Coronapandemie, der Sänger fürchtet seine Verhaftung und das Ende seiner Karriere, das Mädchen fürchtet den Tod auf den Sklavenplantagen und der Schiffsoffizier fürchtet die Eroberung Nordamerikas.

Die Geschichten scheinen, wenn überhaupt, nur lose verbunden. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass sie beispielsweise zum Thema kulturelle Aneignung klar verbunden waren. Dort segeln die einen los, das Land zu erobern, dort werden die Ureinwohner deportiert und am Ende macht man sich ihre Mythen und Legenden auch noch zu eigen, um seine eigenen kleinen Wünsche erfüllt zu bekommen. Gerade der Handlungsstrang der Schriftstellerin macht diesen Gedanken deutlich auf, inwiefern es moralisch akzeptabel ist, von den Geschichten der Wixárika und Yoeme zu profitieren. Und das trifft ja auch direkt auf das vorliegende Buch zu. Insofern lässt sich hier länger darüber nachdenken, ohne eine schnelle und einfache Lösung finden zu können. Hier gibt Anna Hope etliche Denkanregungen. Mich hat es beispielsweise dazu gebracht, stundenlang weiter zu den Yoemem und den Wixárika zu recherchieren und mit Schrecken festzustellen, dass sie auch heute noch oft auf verlorenem Posten um die Rückerlangung ihrer historischen Landgebiete kämpfen.
Stilistisch ist das Buch ungewöhnlich aufgebaut: die Geschichten werden zur Hälfte erzählt, rückschreitend in die Vergangenheit, bis schließlich der Fels selbst zu Wort kommt und die Geschichten dann wieder in der Zeit vorwärts schreitend zu Ende erzählt werden. Wer den “Wolkenatlas” von David Mitchell kennt, wird diese Erzählform wiedererkennen. Besonders gelungen fand ich auch, dass die Abbildungen zwischen den einzelnen Abschnitten den Fels immer aus einer anderen Perspektive zeigen und somit noch einmal hervorgehoben wird, dass jede und jeder ihn anders sieht.
An der ein oder anderen Stelle hätten gerade der Strang der Schriftstellerin und des Sängers noch etwas spannender sein können. Zudem fand ich die Rolle des Sängers in diesem Buch am schwierigsten einzuordnen, aber letztendlich geht es auch hier um die Ausbeutung von Ritualen, rituellen Drogen und kulturellen Eigenheiten zur eigenen Bedürfnisbefriedigung, wenn das auch deutlich abstrakter ist als in den anderen Kapiteln. Insgesamt finde ich aber, dass es der Autorin gut gelungen ist, Stimmungen einzufangen und die Geschichten plastisch zu schildern. Noch einmal intensiver wird das Buch dadurch, dass allen Geschichten zumindest ein wahrer Kern zugrunde liegt, während der Strang der Schriftstellerin sogar eng verknüpft ist mit der Autorin selbst.

Ich habe wiederholt gelesen und gehört, dass Lesende das Buch nicht mochten oder es nicht spannend fanden. Viele der Begründungen kann ich nachvollziehen. Mein Eindruck ist, dass dieses Buch stärker als andere davon lebt, was man selbst hineininterpretiert. Mich hat es berührt, inspiriert und zum Nachdenken und Nachforschen angeregt. Und so hat der Weiße Fels auch hier wieder für jeden eine ganz eigene Bedeutung.