Erzählungen um einen mythischen Fels im Wandel der Zeit

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alekto Avatar

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Eine namenlose Schriftstellerin reist in 2020 mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann in einem Van durch Mexiko. Begleitet werden sie von einer bunt zusammengewürfelten Gruppe bestehend aus einem Mexikaner und einem siebzigjährigen Schamanen, einer Senegalesin und ihrem Kind, einem Musikproduzenten aus Schweden sowie einem Kolumbianer, einer unterwegs aufgegabelten Französin, einer Deutschen und einem Engländer. Ihr Ziel ist eine kleine Stadt am Pazifik. Dort ist der weiße Fels zu finden, der für die Wixárika eine heilige Stätte darstellt. Für die Schriftstellerin und ihren Mann ist diese Reise eine Pilgerfahrt. Denn nachdem sie sieben Jahre lang alles versucht hatten ein Kind zu bekommen, ist sie nach der Zeremonie eines Schamanen der Wixárika schwanger geworden. Und nun werden sie dafür in Gestalt von Opfern etwas zurückgeben.

Der weiße Fels hat einen ungewöhnlichen Aufbau, der mich an mythische Geschichten wie die aus 1001 Nacht erinnert hat. Darin wird eine Geschichte begonnen, um dann mittendrin eine weitere anzufangen, um wiederum eine neue Geschichte aufzunehmen, bis auf diese Weise die vierte Erzählebene erreicht ist, um erst dann die zuletzt begonnene Geschichte zu beenden. Auf diese verschachtelte Art erzählt Anna Hope Geschichten, die um den weißen Felsen kreisen, der bei den Wixárika Tatéi Haramara heißt und den sie für den Ursprung allen Lebens halten. Dabei sind die verschiedenen Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven, die sich auf anderen Zeitebenen bewegen, geschildert. Zu diesen zählen neben der Sichtweise der Schriftstellerin, die in der Gegenwart angesiedelt ist, die eines berühmten Sängers Ende der 60er Jahre, eines erst zwölf Jahre alten Mädchens Anfang des 20. Jahrhunderts sowie eines Kapitänleutnants aus dem Jahr 1775.
Davon ist die Schriftstellerin, die permanent mit ihrer Unsicherheit ringt, die schwächste Figur. Auch ihr neidvoller Blick auf die mit ihr reisende Senegalesin, der es im Gegensatz zu ihr mühelos gelingt ihre Tochter zu versorgen, die stets sauber, ruhig und zufrieden ist, lässt sie nicht gerade sympathischer wirken. Zudem scheitert sie an dem Buch, das sie eigentlich während ihrer mehrmonatigen Reise über Mexiko schreiben wollte und für das sie im Vorfeld umfangreiche Recherchen angestellt hat. Leider hat Anna Hope die Gelegenheit verpasst dieser Schriftstellerin zumindest eine interessante Vergangenheit zu geben, wenn sich diese nur an die Untreue ihres Ehemanns und an ihre eher fadenscheinige Motivation, mit der sie sich Protesten gegen den Klimawandel angeschlossen hat, erinnert.

Die dem weißen Felsen zugrunde liegende Intention der Autorin verstehe ich so, dass sie die Figuren, aus deren Sicht sie die Ereignisse schildert und denen sie keinen Namen gibt, sondern sie nur durch ihre Rolle (die Schriftstellerin, der Sänger, das Mädchen, der Leutnant) charakterisiert, eher als Archetypen denn als Personen ansieht. Das gelingt beim Sänger und beim Mädchen gut, lässt auch beim Leutnant wenig zu wünschen übrig, obgleich sein Freund Miguel Manrique die bessere Wahl als Leutnant gewesen wäre. Denn Miguel ist die interessantere, da charismatischere Figur, dessen Gedankengänge über seine besondere Verbindung zum weißen Felsen einen tieferen Einblick in dessen einzigartige Natur hätten geben können. Im Vergleich zu den zuvor genannten Figuren bleibt die Schriftstellerin blass. Am spannendsten sind die Kapitel der Schriftstellerin, wenn sie anderen Mitgliedern ihrer Reisegruppe aus dem von ihr recherchierten Leben des Sängers und den Umständen der schwersten Reise im Leben des Mädchens erzählt. Indem sie dabei teilweise den Inhalt der später folgenden Erzählungen wiedergibt, nimmt sie diesen damit aber nur einen Teil ihrer Wirkung. Stärker wäre der weiße Fels ausgefallen, falls Anna Hope der Versuchung widerstanden hätte mit einer zeitlich in der Gegenwart angesiedelten Geschichte einen Rahmen um die anderen Kapitel dieses Buchs spannen zu wollen. Denn diese Erzählungen hätte ich als gelungener empfunden, wenn die Autorin den Mut bewiesen hätte diese nur für sich selbst sprechen zu lassen, statt sie in einem übergeordneten Kapitel zusätzlich zu erläutern.

Die Kapitel erzählen starke Geschichten, die mir wohl noch länger im Gedächtnis bleiben werden, abgesehen von der, die die Schriftstellerin betrifft. Dabei hat Anna Hope nur manchmal ein wenig zu dick aufgetragen, wenn sie es mit den in ihren Geschichten eine Rolle spielenden Superlativen übertrieben hat. Beispielsweise muss ja nicht gleich der berühmteste Sänger, dessen Vater der jüngster Admiral der US-Marine und maßgeblich am Ausgang des zweiten Golfkriegs beteiligt gewesen ist, zu einer Hauptfigur werden. Auch ertrinkt dieser Sänger gleich in einem ganzen Sumpf aus Problemen, indem er mit seinem Übergewicht, seiner Alkohol- und Drogensucht zu kämpfen hat, ihm eine Anklage nach seiner öffentlichen Entblößung droht und der von seiner langjährigen Freundin verlassen wurde. Zudem schildert Anna Hope die menschlichen Abgründe, die sich in den Kapiteln des Mädchens auftun, fast schon mit einem voyeuristischen Blick darauf, der sich am Leid und der Qual der Yoemen ergötzt.
Statt dieser expliziten Beschreibung der Grausamkeiten, die die Yoemen zu erdulden haben, hätte die Autorin sich besser auf die mythische Elemente ihrer Erzählung konzentriert, die dieser einen besonderen Touch geben. Denn das Mädchen besitzt nicht nur Empathie und einen guten Orientierungssinn, sondern verfügt auch über die Fähigkeiten einer Seherin. Insgesamt hätte eine ruhigere Erzählweise diesen Geschichten gut getan, weil diese die stillen Momente darin betont, die weit stärker ausgefallen sind. Beispiele dafür sind die Entdeckung der Jupiter Monde vom Leutnant durch sein Teleskop, der leise Widerstand eines hoch gewachsenen Familienvaters, wie ein Danke zur schlimmsten Demütigung der Unterdrückten werden kann und das Ende eines vollkommen über die Stränge geschlagenen Drogentrips, das ein besserer Abschluss für diesen Roman als sein tatsächliches Ende gewesen wäre.