Ein Wechsel des Blickwinkels

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Wir lieben einfache Lösungen. Schubladen: Wie ist ein Mensch? Wie ist eine Krankheit? Wie ist ein Problem? Am liebsten eine Liste zu Rate ziehen, rein in die Schublade, fertig.
Können Ärzte einfach anhand so einer Checkliste Krankheiten diagnostizieren? Tun sie es Dank Ihrer Ausbildung und Erfahrung? Sind Diagnosen eindeutig?
Wenn ich an die Generation meiner Großeltern und auch die meiner Eltern denke, ist das Vertrauen in Ärzte groß. Selbst mein Bruder geht schnell zum Arzt und verlässt sich relativ gern auf das, was der gute Doktor dann rät.

Der Wandel der Welt und der Verlust von Halt
Die Welt ist aber im Wandel. Johann Hari macht in seinem Buch „Der Welt nicht mehr verbunden“ auch klar, welchen Einfluss der Wandel des Alltags auf unsere Gesundheit hat. Schon das ist ein Punkt, der ein interessanter Anstoß seines Werks ist. Viele von uns wohnen nicht mehr in der Heimatstadt, sind mobil, was den Wohnort angeht, aber auch mobil was die Arbeit und Beziehungen betrifft. Die (Verbindungen zu anderen Menschen) haben sich in den vergangenen Jahren gewandelt. Während man früher viel und intensiv Familie, Freunde, Nachbarn persönlich sah und mit ihnen sprach und Dinge unternahm, ist das immer stärker ins Internet gerutscht. Doch ich bin eigentlich schon zu tief drin in der Geschichte.
Johann Hari räumt in seinem Buch etwas ein, was viele nicht gerne zugeben: Er hat Depressionen. Nachdem er zunächst Jahre brav auf seine Ärzte vertraut und Antidepressiva geschluckt hat, hat er sich auf eine Reise durch die ganze Welt begeben, hat Wissenschaftler und Patienten getroffen, hat sich verschiedenste Studien angeschaut und eine Meinung gebildet darüber, ob die Pillen gegen Ängste und Depressionen wirklich helfen.

Antidepressiva – nur ein scheinbares (All-)Heilmittel
Schon der Auftakt seiner Erkenntnisse ist spannend. Eine Schulmeinung über Depression besagt: Es gibt im Gehirn ein chemisches Ungleichgewicht, dieses soll durch die Medikamente behoben werden. Hari führt Studien an, die das belegen, was er auch am eigenen Leib erfahren hat: Antidepressiva helfen zunächst (scheinbar). Doch sie brachten ihm nicht dauerhaft die Lösung. Tatsächlich ist es so, dass 50 % der Wirkung (laut der Studien) am Placebo-Effekt liegen, an einer guten Geschichte, am Vertrauen, dass der Arzt einem Gutes will, dass die von ihm verschriebenen Tabletten diese Besserung bewirken. Eine von vielen Untersuchungen, über die Hari berichtet, ist die eines angeblichen „Zauberstabs“. Ärzte an verschiedenen Standorten haben probiert, ob auch gefälschte „Zauberstäbe“ ähnlich wirken. Das tun sie tatsächlich, wenn die Patienten dem Arzt vertrauen und an die Geschichte, dass der Stab für Linderung sorgt, glauben. Nur 25 % der Wirkung von Antidepressiva. sind echte chemische Wirkungen.

Die Lebensumstände zählen – und zwar beträchtlich
Was sind also die Gründe dafür, dass Menschen an Depressionen erkranken. Hari stößt auf verschiedene Faktoren. Dafür hat er unter anderem mit Wissenschaftlern gesprochen, die Vergleichsuntersuchungen angestellt haben. Sie haben mit Patientinnen geredet, die eine diagnostizierte Depression hatten und mit Frauen mit sehr ähnlichen Lebensunterschieden. Dabei zeigt sich: Faktoren wie eine Arbeit, die einen erfüllt und für die man Wertschätzung erhält, aber auch ein starkes Umfeld aus Familie und Freunden können dafür sorgen, dass man Rückschläge (Krankheit, Verlust eines geliebten Menschen, Arbeitslosigkeit des Mannes) besser verkraften kann.
Insgesamt zeigt Hari im Verlauf seines Buches eine ganze Reihe von Faktoren auf, die wichtig sind, damit es uns gut geht und deren Fehler dazu beitragen können, dass Menschen depressiv werden: Sinnvolle Arbeit, Mitmenschen (die einen brauchen und für einen da sind), sinnvolle Werte, Kindheitstrauma, gesellschaftliche Stellung und Ansehen, Natur, eine hoffnungsvolle oder sichere Zukunft. Auch Gene können einen Teil beitragen – aber ohne weitere Faktoren, so Hari, ist eine genetische Veranlage allein nicht „Schuld“ an einer Depression.
Der Blick auf alle (möglichen) Einflüsse zeigt: Auch Menschen, die scheinbar ein „gutes Leben“ haben, können Grüne haben an ihrer Zukunft zu zweifeln.

Hari schildert seine Reise durch die Welt sehr anschaulich, mischt Erkenntnisse, die er aus Gesprächen mit Wissenschaftlern über deren Studien hat mit Beispielen von Menschen, auf die er getroffen ist und mit eigenen Erfahrungen.
Insofern: „Der Welt nicht mehr verbunden“ liefert spannende Einblicke in unsren Alltag, in all das, was dazu führen kann, dass Menschen Depressionen entwickeln aber auch darin, was wir tun können, damit die Menschen in unserem Umfeld sich besser fühlen und weniger Gefahr laufen, in ein tiefes Tal zu fallen.