Erschütternde, lebenshungrige und doch hoffnungsvolle Schicksale

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
carolaww Avatar

Von

Ich habe mich Isabel Allendes Werk schon einmal genähert, aber nicht so richtig Zugang gefunden.
Das war hier von Beginn an anders: Mit einfachen, die Ereignisse vorantreibenden Worten schildert Isabel Allende nüchtern, fast dokumentarisch, wie der 6-jährige Samuel 1938 aufgrund des Novemberprogroms in Österreich außer Landes gebracht wird. Als Deutscher kennt man die Fakten und möchte daher eher etwas über das Menschliche erfahren, das hinter den grausamen historischen Fakten steckt. Aber das passiert erst viele Seiten später, als Samuel als 86-Jähriger auf diese Zeit zurückblickt. Da hat der Leser bereits vom ähnlichen Schicksal eines salvadorianischen 7-jährigen Mädchens namens Anita erfahren. Sie wurde von ihrer Mutter getrennt, obwohl oder weil sie in den USA Asyl suchen.
Erst ziemlich spät verknüpfen sich die Lebenswege von Samuel, Leticia und Anita und geben dem Leser die Zuversicht, dass es zwar rund um den Erdball viel Grausamkeiten, Machtmissbrauch und Unmenschlichkeit gibt, aber es gibt vor allem Menschen, die uneigennützig helfen und der Hoffnungslosigkeit die Stirn bieten. Diesen Lebenswegen wird auch viel Aufmerksamkeit gewidmet, das ist spannend zu lesen.
Die Autorin bedient sich beim Erzählen dieser Geschichten bewährter Strategien des Romanaufbaus: Es werden abwechselnd in Abschnitten ähnliche Lebenswege von Flüchtlingen auf dem Weg in ein besseres Land bzw. Leben vorgestellt. Es geht dabei meist um El Salvador und die USA. Am Ende der Abschnitte benutzt Allende Cliffhanger, aber leider dauert es mehrere Kapitel, bis diese aufgelöst werden. Dabei verliert man schnell die Übersicht, muss zurück blättern, sich konzentrieren.
Alle Figuren werden trotz ihrer erlittenen Demütigungen als stark geschildert. Sie sind meist voller Lebensfreude und Optimismus, versuchen mental mit dem Schicksal zurechtzukommen. Man merkt, dass sich die Erzählerin mit der lateinamerikanischen Mentalität gut auskennt.
Der Erzählstil ist flüssig, es werden realistische tatsächliche Ereignisse mit ausgedachten Lebensläufen verbunden. Für Anita gab es ein Vorbild.
Am besten gefielen mir die Kapitel mit Anitas Selbstgesprächen, die von Zeit zu Zeit die Entwicklung vorantreiben, aber auch Einblick in die Seele eines unschuldigen, fantasievollen Kindes geben.
Hier steckt der „kleine Prinz“ zwischen den Zeilen. Das ist wiederum ein starker Abschluss des Buches, der Geschichte von der Suche nach Liebe, Zugehörigkeit und Menschlichkeit und dem Finden einer Heimat.
Wegen des Sujets, wegen der Aktualität ist es ein bewegendes Werk der chilenischen Autorin, die uns mahnt, über die Grenzen zu blicken und, wann immer es geht, Gutes zu tun.