Benvenuti a Girifalco!

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Dies ist der zweite Roman Domenico Daros, der in Girifalco spielt. Dadurch beschert er uns ein wunderschönes Wiedersehen mit Girifalco, ein Dorf das seit seinem ersten Roman (Der Postbote von Girifalco) uns ans Herz gewachsen ist. Die Menschen in Girifalco sind wie überall: herzensgut, gleichgültig, böse, manchmal niederträchtig; sie lieben, sie hassen, sie lachen oder weinen, sie verzweifeln an der Welt oder sind unbeschreiblich glücklich. Alt und jung, alle werden vor unseren Augen zu realen Gestalten, aus dem Leben gegriffen.
Die ersten acht Kapitel stellen uns ein paar der Bewohner von Girifalco vor, mit all ihren Sorgen oder Freuden, Hoffnungen, Wünschen und Erwartungen.
Zuerst lernen wir Lulu kennen, der in der Nervenheilanstalt lebt. Er tut niemanden etwas zu leide, zieht trotzdem den Hass Caracantulus auf sich, der sich letztendlich aber zu seinem Gunsten auswirken wird. Lulu ist mit einem einmaligen musikalischen Gehör ausgestattet. So kann er jede einmal gehörte Melodie meisterhaft wiedergeben, indem er auf einem Baumblatt bläst. Lulus Herzenswunsch ist es, seine Mutter wiederzusehen, die versprach ihn aus der Nervenanstalt zu holen. Er glaubt ihr Gesicht in einem Madonnenbild zu erkennen und trägt es deswegen ständig auf seiner Brust.
Dann wäre da Archidemu, der Stoiker, der einst seinen Bruder unter nie geklärten Umständen verlor und ihn seither immer sucht.
Mararosa, die Böse. Als Kind war sie schon neidisch und missgünstig auf alle anderen Kinder um sie. Als ihr Vater ihre Heirat mit Servatura verbietet, wird ihr Hass auf die Mitmenschen noch größer. Es vergeht kein Tag an dem sie nicht heimlich Rorò verflucht, die Frau die Servatura dann geheiratet hat. Obwohl selbst verheiratet und mit einem Kind gesegnet, kann sie der Welt im Allgemeinen und Rorò im Besonderen nicht verzeihen.
Mararosas Gegenpole sind Cuncettina und Rorò. Beide Frauen werden einem sofort sympathisch. Die vom Schicksal begünstigte Rorò liebt und lebt nur um ihrem Mann Servatura jeden Wunsch zu erfüllen, und sei er auch noch so klein.
Cuncettina hat es schwer, sehr schwer, in einem Mikrokosmos, in dem der Wert einer Frau an der Zahl ihrer Kinder gemessen wird. Sie kann keine Kinder empfangen, jeden Monat erlebt sie eine herbe Enttäuschung. Jedes Mal, wenn im Ort eine Frau schwanger wird, reiben es ihr die anderen Frauen so richtig unter die Nase und weiden sich an ihrem Leid. Dabei wird Cuncettina nie neidisch, nie missgünstig. Sie gönnt den anderen Frauen ihre Schwangerschaften, sie versucht ihrem Mann eine gute Frau zu sein, würde ihn auch frei geben, um ihn eine andere Frau heiraten zu lassen, die ihm Kinder gebären könnte. Selbstlos und traurig. Als sie die vierzig längst überschritten hat bleibt ihre Regel aus. Zuerst glaubt sie, die Wechseljahre wären da. Doch einige Symptome lassen sie an den Wechseljahren zweifeln. Leider erfahren wir nicht, ob Cuncettinas Herzenswunsch sich erfüllen wird, ich drücke ihr ganz fest die Daumen.
Venanziu, der beste Schneider des Ortes im öffentlichen Leben und der beste Liebhaber im Geheimen, setzt so ziemlich allen Ehemännern heimlich Hörner auf. Offiziell schürt er sogar die Gerüchte, er wäre schwul, nur um so mehr seinem erfüllten Sexleben frönen zu können. Er liebt keine der vielen Frauen, er verlebt nur schöne Schäferstündchen mit ihnen und die Frauen sind alle zufrieden. Sie sind verheiratet, kein Ehemann schöpft je einen Verdacht. Und dann passiert das unglaubliche: Venanziu verliebt sich in Micaela, eine Zirkuskünstlerin. Diese Liebe erscheint auf seinem persönlichen Firmament gerade in dem Moment, in dem er entdeckt, dass seine Virilität nachlässt, dass seine Manneskraft endlich ist. Schön ist, dass diese Liebe nie sexuell ausgelebt wird, unausgesprochen schwebt sie zwischen ihnen in den wenigen Augenblicken, in denen sie sich gegenüberstehen. Venanziu ist sich wohl auch des Altersunterschieds zwischen ihnen bewusst. Er, der Epikureer, verzichtet darauf, Micaela Avancen zu machen, sie ins Bett zu bekommen.
Angeliaddu ist noch ein Kind, hat aber alle Bitterkeit dieser Welt erfahren. Seine Mutter wurde von ihren Eltern verstoßen als sie mit ihm schwanger war, in Girifalco bei der alten Varvaruzza fand sie Unterschlupf. Angeliaddu ist von Anfang an ein Ausgestoßener. Sein „Vergehen“: er hat von Geburt an im Nacken eine Strähne weißes Haar und ist blond, in einer Gegend wie Kalabrien, wo alle Menschen schwarze oder braune Haar haben, fällt er sofort auf.
Das wären die acht Personen, eine kleine Auswahl aus Girifalco. Um sie herum ihre Angehörigen, Freunde, Feinde, das ganze Dorf. Neben Mararosa, der Bösen tun sich durch ihre Niedertracht und Missgunst auch der Vermessungstechniker Discianzu hervor, der Angeliaddus Mutter nachstellt und weil von ihr abgewiesen sich an ihrem Sohn rächt, ihn des Reliquiendiebstahls fälschlicherweise bezichtigt. Dann wäre da noch Caracantulu der den Verlust seiner drei Finger bei einem Arbeitsunfall in Deutschland vor vielen Jahren vor dem Dorf geheim hält und einen Handschuh trägt. Von Juckreiz an der Hand gequält hasst er alle und jeden, am meisten aber den unschuldigen und geistig zurückgebliebenen Lulu. Weil Lulu seine nackte Hand gesehen hat, beschließt er Lulu zu vernichten. Er beschuldigt ihn der sexuellen Belästigung eines Mädchens. Der nächste Böse ist Grafathas. Er stammt nicht aus Girifalco sondern kommt mit dem Zirkus ins Dorf.
Der Zirkus, ach ja der Zirkus: Ort der Wunder, der Magie, für einige der Bewohner von Girifalco auch Ort der Erlösung. Angeliaddu findet hier Schutz, genau wie Lulu, Cuncettina wagt auf eine Schwangerschaft zu hoffen, Mararosa wünscht sich eine Vereinigung mit Servatura. Taliana findet hier ihre Eltern wieder, die sie einst verstoßen hatten und die sie nun reuevoll begrüßen, sie haben sie all die Jahre über gesucht. Und all dies im Zirkuszelt.
Durch den Zirkus lernt Angeliaddu am Trapez trainieren, kann dadurch Discianzus Tochter aus dem Feuer retten, worauf Discianzu beschließt, bei seiner Mutter Abbitte zu leisten und verhilft ihr zu einer gut bezahlten Arbeitsstelle. Nach der Heldentat des Jungen bringt ihm plötzlich das ganze Dorf Achtung und Sympathie entgegen, sein Leben und das seiner Mutter wendet sich zu Guten.
Caracantulu erleidet einen zweiten Unfall im nächtlichen Zirkuszelt und überwindet seinen Menschenhass. Durch diesen Unfall wird Grafathas Anschlag auf Batral vereitelt. Es ist, als ob das Böse keine Macht im Zirkuszelt hat. Lulu kann hier auftreten und alle mit seiner Musik beeindrucken. Vergessen, Null und nichtig sind die Anschuldigungen, er hätte sich an einem Mädchen vergriffen. Die Pfleger in der Nervenheilanstalt hatten sofort nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Lulu diese für lächerlich erklärt.
Die wunderschöne Sprache Domenico Daros meisterhaft ins Deutsche übertragen von Anja Mehrmann verzaubert, nimmt uns mit auf eine italienische Reise, von der wir wünschen, sie möge nie enden. Einige Sätze verwandeln sich in Sentenzen, die uns begleiten, helfen, die Welt besser zu verstehen. Was ist ein Wunsch? „…ein Wunsch ist Zeit, die sich strukturiert, eine Vergangenheit aus Bedauern, eine Zukunft aus Möglichkeiten und eine Gegenwart des Wartens.“ (Seite 129).
Oder nehmen wir den kurzen Exkurs über Barmherzigkeit: „“…auch in der unfehlbaren Himmelsmechanik ist Platz für Barmherzigkeit. Denn Barmherzigkeit ist nur eine andere Bezeichnung für die Ausnahme, die Abweichung von der Regel. Barmherzigkeit ist das orbitale und menschliche Echo, das die Welt hin und wieder nachjustiert, die geringfügige Abweichung, die die Regel außer Kraft setzt, die Umlaufbahn eines Asteroiden, … der Weg, den die Vorsehung einschlägt, wenn der Mechanismus blockiert“ (Seiten 373-374)
Mittels der Sprache tauchen wir tief ein in Girifalco, leben, lieben und leiden mit den Bewohnern mit, gehen abends in den Zirkus betreten mit den Einwohnern ihre Häuser, lernen sie schätzen, lieben, manchmal auch ablehnen. Aber keiner von ihnen ist so abgrundtief schlecht, als dass sie nicht auch das Wunder der Barmherzigkeit streift und sie sich läutern.
Und so nehmen uns die einzelnen Schicksale der Bewohner Girifalcos gefangen, berühren unsere Herzen, um uns erneut dann in unsere eigene vertraute Welt zurück zu entlassen. Girifalco ist uns nicht fremd. Es ist überall. Wir müssen es nur entdecken.