Ein "Leider nein"-Roman

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lilly_molamola Avatar

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Sowohl der Titel als auch das Umschlagbild zogen mich von Beginn an in seinen Bann - wollte ich als Kind doch gerne mit einem Wanderzirkus von A nach B ziehen.
Domenico Dara entführt uns in seinem Roman nach Süditalien in den kleinen verschlafenen Ort Girifalco mitten im August, kurz vor den Feierlichkeiten des Dorfheiligen San Rocco. Auf gut 100 Seiten führt der Autor seine durchweg verschrobenen Charaktere ein: Hier hätten wir einerseits Archidemu Crisippu, seines Zeichens Stoiker, dessen Bruder seit Jahren vermisst wird - eine Schildkröte dient ihm als Ersatz für den Verlust; Lulù Segareddu, der in der örtlichen Nervenheilanstalt einsitzt, auch nach Jahren noch auf seine Mutter wartet und sich die Zeit damit vertreibt, auf Blättern Melodien zu spielen; Cuncettina Licatedda, die seit ewigen Zeiten nichts sehnlicher möchte als schwanger zu werden, von boshaften Dorfbewohnern aber nur "die Vetrocknete" genannt wird; Schneidermeister Venanziu Micchiaduru, ein Nymphomane, wie er im Buche steht und der die Frauen im Dorf allesamt mit seinem "Kastanienstock" und seiner "heiligen Milch" beglückt, obwohl ihn die meisten für schwul halten; Mariarosa, die sich ein Leben lang benachteiligt und hintergangen fühlt, weil ihre Erzfeindin Rorò den Mann und das Leben hat, was ihrer Ansicht nach ihr zustehen müsste - Mariarosas Alltag besteht im Großen und Ganzen daraus, Rorò einen baldigen Tod zu wünschen; Roròs Ehemann Sarvatúra, der den delikatesten Lebensmitteladen in ganz Girifalco führt und schließlich Angeliaddu und Taliana Passataccu, Mutter und Sohn, die vom städtischen Vermesser buseriert werden, da Taliana einst dessen Avancen ablehnte.
Das sind bei weitem aber noch nicht alle Protagonisten. Auf den ersten 100 Seiten passiert also zunächst nichts weiter, als dass der Autor seine Figuren mit den kompliziertesten Namen, die es wohl je in einen Roman geschafft haben, mit ihrer Lebensgeschichte einführt, ohne dass ein konkreter Zusammenhang zwischen ihnen ersichtlich wird. Diese ersten 100 Seiten sind zum Teil mühsam und langatmig, was zum Teil auch an dem Stil des Autors liegt: Schachtelsatz über Schachtelsatz, allzu geschraubte Formulierungen und Metaphern - kurzum, man braucht gleich zu Beginn einen langen Atem als Leser. Abgesehen davon, dass man sich die Namen alle unmöglich merken kann, hat man die jeweiligen Figuren bis zu ihrem erneuten Auftauchen in der Handlung schon längst wieder vergessen.

Ein Zirkus verirrt sich in die Stadt
Statt des alljährlichen Jahrmarktes zur Feier des Dorfheiligen verirrt sich ein Zirkus nach Girifalco und versetzt die Bewohner in helle Aufregung. Und damit ist der Hauptplot an sich beendet. Von da an plätschert die Geschichte über 400 Seiten vor sich hin, ohne dass etwas wirklich Aufregendes oder Entscheidendes passiert. Aber kurz zu den DorfbewohnerInnen und was ab dem Eintreffen des Zirkus mit ihnen geschieht:
Der Stoiker Archidemu glaubt in dem Balancekünstler Jibril seinen vor 30 Jahren verschollenen Bruder Sciachineddu wiederzuerkennen. Jibril selbst leidet an Gedächtnisverlust und kann mit Archidemu nichts anfangen. Archidemu selbst bringt aber nicht den Mut auf, ihn direkt darauf anzusprechen.
Der Trapezkünstler Batral freundet sich mit Angeliaddu an, der wiederum in Batral einen Ersatzvater findet. Die beiden verbindet eine weiße Strähne am Hinterkopf, die ein Zeichen des Teufels sein soll.
Der Schneider Venanziu verliebt sich zum allerersten Mal in seinem Leben in die Schlangenfrau Mikaela, der er sogar ein exquisites Trikot schneidert. Aber auch er bringt den Mut nicht auf, mit der Wahrheit herauszurücken.
Der verrückte Lulù glaubt in Luvia, einer weiteren Angehörigen der Zirkusfamilie seine lang verstorbene Mutter zu sehen und schließt sich letzten Endes dem Zirkus an.
Cuncettina trifft am Dorfbrunnen den Zauberkünstler Tzadkiel, der ihre Flasche in Blumen verwandelt und ihr bei ihrem Besuch eine weiße Taube auf den Bauch zaubert. Von dem Moment an lebt sie in der Hoffnung, doch noch schwanger zu sein.

Ein zeitloser Roman über menschliche Schicksale
Der Roman wirkt völlig zeitlos, der Handlung sind keine Informationen zu entnehmen, wann die Geschehnisse zeitlich angesiedelt sein sollen. Auch das Ende war für mich enttäuschend, das meiste wird nur angedeutet, alles bleibt offen und endet mit der Abreise des Zirkus bzw. mit dem Ende der Feierlichkeiten zu Ehren des Dorfheiligen.
Ich habe gute 11 Tage für 523 Seiten benötigt (was für mich schon recht lange ist), weil ich meist nach 50 Seiten so erschöpft war vom Schreibstil und gelangweilt von der Handlung. Es passiert einfach... NICHTS! Mit diesem Nichts aber über 500 Seiten füllen zu können, ist dann wohl wieder eine Meisterleistung. Ich konnte dem Roman leider nichts Poetisches oder Märchenhaftes oder gar die Leichtigkeit abgewinnen - Beschreibungen, mit denen der Roman beworben wurde-, ich kann ihn leider nur als mühsam beurteilen.
Domenico Dara beschreibt die Bewohner eines Dorfes, die alle mit ihrem Schicksal zurechtkommen müssen und ihr Päckchen zu tragen haben, mir fehlte aber die Vernetzung der einzelnen Dorfbewohner zueinander. Der Roman ist in 30 Kapitel aufgeteilt, die in mehrere kleine Kapitel unterteilt sind, die wiederum in kurze Abschnitte über die jeweiligen Dorfbewohner gegliedert sind. Mir fehlte da der rote Faden, das einzige verbindende Glied war oft nur, dass sie alle im selben Dorf wohnen. Auch finde ich den Titel des Romans irreführend, der ja eigentlich den Zirkus in den Mittelpunkt rückt, der Zirkus wird aber auffallend wenig beschrieben. Ebenso sind die Charaktere zu zahlreich, man wird immer wieder aus der Handlung gerissen, weil man nicht mehr weiß, wer wer ist oder um wen es denn eigentlich gerade geht (da hilft auch das Verzeichnis am Ende herzlich wenig, es sind schlichtweg einfach zu viele!)
Ich habe mich bis zum Ende des Romans gekämpft, bin aber schwer enttäuscht davon und kann ihn daher leider auch nicht weiterempfehlen. Dieser fällt eher unter die Kategorie "Schwere Kost".