Über den Zirkus des Lebens

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REZENSION – Nach dem Überraschungserfolg des in Italien mehrfach prämierten Romandebüts „Der Postbote von Girifalco“ (2019) von Domenico Dara (50) war das Erscheinen seines zweiten Romans „Der Zirkus von Girifalco“, dessen gelungene Übersetzung von Anja Mehrmann der Kiwi-Verlag jetzt veröffentlichte, wenig überraschend. Wieder tauchen wir in dieses kalabrische Provinzdorf am Südzipfel Italiens ein, „diesen gottverlassenen Punkt auf der Landkarte des Universums“, wo man nur zwei Winde aus West und Ost kennt und dessen eintöniges Alltagsleben sich zwischen der Nervenheilanstalt im Norden und dem Friedhof im Süden abspielt.
Es ist Hochsommer in Girifalco und die Vorfreude auf das Fest zu Ehren des Patronatsheiligen San Rocco ist spürbar. Doch noch geht alles seinen gewohnten Gang, den der Stoiker Archidemu mit der unabänderlichen Bahn der Planeten vergleicht, bis Ungewöhnliches geschieht: Ein Zirkus, von seiner eigentlichen Reiseroute abgekommen, hat sich nach Girifalco verirrt und schlägt sein Zelt auf dem Festplatz auf. In der nun einsetzenden Handlung erleben wir nicht nur die Artisten in der Zirkuskuppel. Durch deren unerwartetes Erscheinen wird auch das Leben der Dörfler aus der üblichen Bahn geworfen. Wir erleben einen Jahrmarkt der Eitelkeiten und Bosheiten, treffen auf Menschen mit Abnormitäten, organischen und psychischen Verletzungen. Wir lernen Charaktere kennen, deren Nöte und Ängste, Wünsche und Träume uns der Autor in fast poetischer Sprache anrührend beschreibt, einfühlsam von Anja Mehrmann ins Deutsche übertragen.
So hat Archidemu nie verwunden, dass sein jüngerer Bruder als Kind unter seiner Aufsicht verschwand. Ihn hofft er in dem Jongleur wiedergefunden zu haben, denn der Verschwundene, so glaubt er als Himmelsbeobachter, muss doch irgendwann auf der Planetenbahn des Lebens wieder an seinen Ursprungsort zurück. Die verbitterte Mararosa, der einst der Bräutigam Sarvatùra verwehrt wurde und der dann die junge Rorò heiratete, hofft nach deren frühen Unfalltod auf eine neue Chance beim Witwer. Schneider Don Venanzìu, der mit seiner strotzenden Manneskraft alle Frauen des Ortes glücklich machte, muss plötzlich feststellen, dass auch er inzwischen älter geworden ist.
Domenico Dara setzt die Kapitel der Handlung aus jeweils wechselnder, subjektiver Sicht dieser und anderer Protagonisten zusammen, zu denen auch der Schmied Caracantulu gehört, der seine einst durch Unachtsamkeit zerschmetterte Hand vor den anderen im Handschuh verbirgt, ebenso wie der Dorftrottel Lulù, der noch immer auf die Rückkehr seiner längst verstorbenen Mutter wartet, oder der nicht nur durch seinen Blondschopf auffällige Angeliaddu, als unehelicher Sohn einer Zugereisten ein Außenseiter.
Dem Autor, der selbst in Girifalco aufwuchs, gelingt es trotz einiger Textstellen, in denen er allzu sehr ins Philosophische abdriftet, in seinem Roman dieses kleine kalabrische Dorf und das Leben seiner Einwohner mit all ihren Hoffnungen und Sehnsüchten authentisch und atmosphärisch dicht zu schildern. Wir erleben Menschen einer Welt – so formuliert es der Stoiker Archidemu im Roman –, die aus dem Weltall betrachtet nur „eine Murmel [ist], die sich immer auf dieselbe Weise drehte“ und deren Bewohner „nichts und wieder nichts“ sind „wie die Mücke, die wir auf unserem Arm zerquetschen“. Und doch nimmt sich jeder Einzelne in Girifalco wichtig und sieht sich als Mittelpunkt dieses irdischen Zirkus wie die Sonne, um die alle anderen Gestirne kreisen.