Hart statt herzlich

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webervogel Avatar

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Großmütter gibt es in der Literatur viele. Meist handelt es sich um kluge und weitsichtige Frauen mit großem Herzen, viel Geduld und einem immer offenen Ohr, die stets zur Stelle sind, wenn sie gebraucht werden. Und oft bringen sie dann auch noch Kuchen mit.

In Alina Bronskys „Der Zopf meiner Großmutter“ erfüllt die russische Oma keins der gängigen Klischees. Sie ist selbstgerecht, herrschsüchtig, weiß alles besser, beschimpft und tyrannisiert ihr Umfeld. Backen tut sie zwar, gleich zu Beginn des Romans zum Geburtstag ihres vielleicht fünf- oder sechsjährigen Enkels Mäxchen, doch der darf die Torte nur anschauen und einmal dran schnuppern, bevor sie vor seinen sehnsüchtigen Augen verzehrt wird. Denn Max verträgt Kuchen eh nicht, weiß die Oma. Außerdem ist er, wie sie ihm immer wieder einbläut, debil, schwachsinnig, todkrank und wird das Erwachsenenalter niemals erreichen. Dass weder Ärzte noch Lehrer diese Diagnose bestätigen, verunsichert Margarita Iwanowna kein bisschen.

Diese beratungsresistente Schreckschraube war dann auch der Grund, dass mich die Geschichte anfangs ziemlich befremdet hat. Natürlich muss nicht jede Oma selbstlos und wohlwollend auftreten, aber diese hier beleidigt und piesackt ihr verwaistes Enkelkind in einem fort, ohne dass ihr schweigsamer Mann Tschingis Mäxchen jemals zu Hilfe kommt. Für mich war das kein Lesespaß, sondern ziemlich unangenehm. Doch der Roman entwickelt sich, Mäxchen, aus dessen Perspektive er geschrieben ist, wird älter, verständiger und schafft es mehr und mehr, sich von der Großmutter zu emanzipieren – wobei er gleichzeitig eine Ahnung von deren wahrem Wesen bekommt. Außerdem wirbelt noch ein für alle Seiten unerwartetes Ereignis das Familiengefüge unwiderruflich durcheinander: Der Großvater verliebt sich. Und ab da bekommt der Roman eine gewisse Leichtigkeit, die mir vorher gefehlt hat.

Alina Bronsky schildert Mäxchens Heranwachsen in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft in nüchternen Worten, die doch anrühren. Sie ist eine Meisterin der knappen Beschreibungen, die alles ausdrücken und nachwirken. Und nötigt ihren Lesern schließlich sogar Respekt vor Margarita Iwanowna ab – einer Großmutter, die ich nicht so schnell vergessen werde.

Ich habe dieses Buch als Leseexemplar erhalten.