Opulentes Panorama rund um den ersten Auschwitz Prozess

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mojoh Avatar

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Wir befinden uns im Jahr 1963 in Frankfurt am Main. Es ist eine Zeit, in der das Wirtschaftswunder die Gesellschaft bestimmt. Der Krieg ist seit fast 20 Jahren vorbei, es wird vermieden darüber zu sprechen und Fragen werden erst recht keine gestellt. Getreu dem Motto: Worüber wir nicht sprechen ist auch nicht so geschehen.
Die 24jährige Dolmetscherin für Polnisch Eva, Tochter der Wirtsleute Bruhns, Inhaber der Gaststätte Deutsches Haus, rutscht durch Zufall in die Kreise der unmittelbaren Vorbereitungen des ersten Auschwitzprozesses. In diesem stehen 22 Angeklagte aufgrund der verschiedensten Posten, die sie im Vernichtungslager Auschwitz innehatten im sogenannten „ersten Ausschwitzprozess“ vor Gericht.
Nach und nach entblättert sich vor der Protagonistin ein Gebilde von unvorstellbarem Grauen, jedes Blatt des Wegschauens und Verschweigens, des Leugnens, der Scham einerseits und der schmerzvollen Erinnerung andererseits die entfernt werden um die Vergangenheit zu enthüllen machen Eva zu schaffen. Zu Wort kommen Zeugen, Opfer wie Täter, Mitläufer und Wegschauer, sie alle tragen im Laufe der Zeit zur eindrucksvollen Entwicklung der Hauptperson bei. Aber nicht nur der im Vordergrund stehende Prozess spielt eine Rolle, auch andere Entwicklungsaufgaben der Zeit werden angerissen: Das klassische Familienbild bekommt erste Risse durch zarte Selbstbehauptungsversuche von Eva gegenüber ihrem Verlobten Jürgen. In der gleichen Konstellation wird eine Klassenhierarchie zwischen dem Sohn aus reichem Hause und der bürgerlichen Tochter der Wirtsleute am Rande behandelt. Der Antisemitismus, der sich unter anderem jetzt neue Opfer in den Reihen erster Gastarbeiter sucht, Opfer, die zu Tätern werden, Rollenerwartungen und deren psychischen Folgen für die, die sie nicht erfüllen am Beispiel von Annegret, Evas älterer Schwester – all das kommt zur Sprache und wird leicht, nebeher und am Rande behandelt.
Das wäre auch mein einziger Kritikpunkt am Romandebut der Autorin, eventuell hat sie sich zu viel vorgenommen, um alles differenziert und mit der gebotenen Tiefe zu behandeln. Die Intention ist klar: Sie versuchte ein Panorama der Zeit zu entwerfen und alle gegebenen Problemfelder zu bespielen. Ganz leicht merkt man, dass sie aus der Drehbuchsparte kommt, in der sie unter anderem für genau diese Serien wie Weißensee und Kuhdamm 56/59 verantwortlich zeichnet. In Schriftform hätte sie eventuell einige Seiten mehr benötigt, um ein ähnliches Ergebnis zu erzielen.
Andererseits hat sie ihre Erzählform in der Regel sehr dicht an Eva gewählt, was mir ausgesprochen gut gefallen hat. Obwohl manche Dinge schon früh zu ahnen waren, hat sie immer wieder kleine Twists eingefügt, die mich überrascht haben. Und durch die Kürze des Buches wurde es an keiner Stelle langweilig oder langatmig.
Insgesamt vergebe ich gute 4 Sterne, ich hatte ein solches Buch erwartet, nachdenklich machend, in einem hohen Tempo erzählt. Ein aufrüttelnder Apell gegen das Vergessen und gleichzeitig eine die schwierige Frage der moralischen Verantwortung stellend. Die Autorin malt nicht nur schwarz und weiß sondern gerade durch die Vielfalt der gewählten Farben fällt es dem Leser nicht einfach, zu einem eindeutigen Urteil über das handelnde Personal zu kommen.