Beeindruckendes Psychogramm

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isleofharris Avatar

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Das Cover des Buches ist ansprechend und attraktiv gestaltet. Es besteht aus bunten aufeinandergeschichteten Fragmenten (evtl. Blütenblätter) sowie einer Kerze. Titel und Gestaltung lassen nicht auf den Inhalt des Buches schließen. Was befindet sich wohl unter diesen Schichten, was es gilt freizulegen? Und was bedeutet der Titel „Diamantnächte“?

Die Protagonistin Agnete führt ein (finanziell) abgesichertes Leben in zweiter Ehe. Sie hat einen Job als Übersetzerin, eine Tochter, mit der sie sich gut versteht und einen Ehemann, der beruflich etabliert ist. Ihr Leben verläuft in scheinbar geordneten Bahnen. Doch plötzlich fallen ihr die Haare aus. Sie nutzt die längere Abwesenheit ihres Ehemannes, die durch eine Dienstreise bedingt ist, um über ihr Leben bzw. die Ereignisse in ihrer Vergangenheit zu reflektieren und den Grund für ihren Haarausfall herauszufinden.

„Der Kaffee signalisierte meinem Gehirn, dass mein Tag begonnen hatte, jener Tag, an dem ich entschieden habe, dass ich aufhören muss, mich von mir selbst abzuwenden, wenn ich die Frage stelle, was passiert war und warum.“ (Seite 12)
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird zunächst aus Sicht einer Ich-Erzählerin dargestellt, so dass sie für den Leser als Person greifbar wird. Gefühle, Gedanken und Überlegungen werden auf diese Weise vermittelt und man kann sich als Leser gut in die einzelnen Situationen hineinversetzen. Im Laufe der Erzählung wechselt dann jedoch die Erzählperspektive in die dritte Person. So wird es vermieden, dass die Erzählung zu nah, persönlich und zu hart wird. Ferner werden die Namen der Protagonistin und der Nebenfiguren geändert.

Der Leser erfährt, dass die Kindheit der Erzählerin unter anderem geprägt war von dem Gefühl, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und angetrieben von dem Wunsch, gesehen zu werden. Hierbei greift sie auf extreme Möglichkeiten, wie z.B. durch selbstverletzendes Verhalten oder sogar Änderungen des Essverhaltens (Essstörungen), zurück.

„Die Verletzungen, die ich mir selbst beibrachte, waren immer von wirklichen Unglücken inspiriert“. (Seite 76)

„Als Jugendliche entdeckte ich eine neue Strategie, mich selbst zu zähmen, die gleichzeitig eine Möglichkeit bot, mich selbst zu verletzen… niemand sollte sehen, dass ich nichts aß… .“ (Seite 199).

Sie macht ihre erste sexuelle Erfahrung mit einem geschiedenen jüngeren Wissenschaftler, um die Macht und Kontrolle über den eigenen Körper zu spüren bzw. zurückzuerlangen. Hierbei tritt ihre Selbsttäuschung zu Tage:

„Meine damalige Mitbewohnerin, die schon seit Jahren einen Freund hatte, schimpfte darüber, dass ich mich von dem alten Schwein ausnutzen ließ, dabei empfang ich nichts als Erleichterung. So habe ich diese Geschichte mir und anderen erzählt.“ (Seite 19)

Hier wird deutlich, dass unsere Darstellung der Ereignisse dazu führt, die Fremdwahrnehmung unseres Umfeldes als auch unser Selbstbild zu formen. Der Protagonistin ist es wichtig, ein Bild von ihr für die Außenwelt zu entwerfen, so, wie sie gerne wahrgenommen werden möchte, um das Verhalten ihr gegenüber zu beeinflussen. Aber was befindet sich unter dieser äußerlichen Schicht?

Ein weiteres Trauma ihrer Vergangenheit ist eine komplexe #Metoo-Beziehung und die Rolle, die sie hierbei spielt.

„Aber ich interessiere mich für mich selbst, warum habe ich mich ergeben, zum Verzehr dargeboten?“ (Seite 153)

Hierbei sieht sie sich nicht als Opfer (Diamant = unbezwingbar, unbesiegbar).

Die Geschichte, die retrospektiv erzählt wird, ist intensiv-irritierend. Der Wechsel in der Erzählperspektive und die Änderung der Namen der handelnden Personen führen dazu, dass man als Leser aus dem Flow der Erzählung gerissen wird und zunächst desorientiert ist. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Wechsel der Zeitebenen. Weiter wird diese Unbeständigkeit durch die literarische Form, wie z.B. der fragmentarischen Aufteilung des Textes, unterstrichen. Manche Kapitel bestehen aus lediglich einem Satz, manche aus wenigen Seiten.

Fazit: Ein lesenswerter, jedoch kein einfacher Roman über eine Frau, die mit ihrer eigenen Vergangenheit kämpft und versucht, durch feine Reflexion ihre Traumata und den erfolgten Missbrauch zu verarbeiten. Trotz dem Wechsel der Zeitebenen und der Änderung der Namen der handelnden Personen, die den Leser etwas ratlos und desorientiert zurücklassen, ist der Roman zu empfehlen. Die Auseinandersetzung mit den einzelnen Thematiken führt dazu, dass man sich Gedanken über sich selbst und seine Verhaltensweisen macht und sich unwillkürlich fragt, ob man sich in bestimmten Situationen tatsächlich authentisch verhalten hat.