Ein Stück Zeitgeschichte

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Vom Titelbild, gestaltet wie eine grafic novel, blicken uns der Architekt Hermann, seine Frau Isi und die Tochter Isa Henselmann entgegen; darunter sind die im Buch beschriebenen Gebäude in Ost-Berlin, an denen Henselmann beteiligt war, abgebildet.
Florentine Anders beschreibt in 'die Allee' die Geschichte ihrer Großeltern und ihrer Mutter.
In kurzen Kapiteln begleiten wir zunächst die Großeltern ab 1931 und später alle drei bis 1995, dem Jahr, in welchem Hermann Henselmann verstarb.
Henselmann lernt die jüngere Isi kennen und bringt sie dazu, sich von ihm ausbilden zu lassen. Isi wird Mutter von 8 Kindern und ist die meiste Zeit rechte Hand und Sekretärin ihres Mannes.
Hermann Henselmann ist ein unsympathischer Mann; er ist cholerisch, betrügt seine Frau und hängt sein Fähnchen nach dem Wind, um weiterhin für das DDR Regiem tätig sein zu können.
Insbesondere Isa, eines der jüngeren Kinder, muss die Wut des Vaters öfter aushalten.
Die Mutter schützt sie nicht.
Eine der wirklich schlimmen Szenen im Buch ist die Stelle, an der Isa in einer Klinik eingesperrt wird, weil sie angeblich eine Geschlechtskrankheit hat. Dort wird sie quasi täglich im Genitalbereich brutal untersucht. Der Familie scheint das egal, ein Freund ihres Bruders trifft zufällig als Psychologe in der Klinik auf sie und sorgt für ihre Entlassung.

Das Buch soll eigentlich die Geschichte des Architekten und seine Leistung für die DDR beschreiben. Für das Verständnis fehlen mir im Buch Bilder oder wenigstens links auf entsprechende Seiten im Netz.
Mir sind die DDR Gebäude nicht bekannt - ich konnte also manche Inhalte des Buches nicht nachvollziehen.
Mehr gefesselt hat mich die dysfunktionale Familie. Die mit sich beschäftigten Eltern von 8 Kindern ziehen oft um, entreißen die Kinder dem Umfeld, ziehen in eine Doppel-Wohnung und lassen sich die Kinder selbst erziehen; schicken die Tochter ins Internat.
Isa gehört mein Respekt: dass sie es geschafft hat, unter widrigen Umständen ihre Kinder aufzuziehen und zu einem selbstbestimmten Leben zu finden.
Ich habe in den letzten Monaten einige Bücher gelesen, die das Leben in der ehemaligen DDR beschreiben. Fast ausnahmslos wird Gewalt, Sprachlosigkeit und Bespitzelung beschrieben.
Es ist mir unerklärlich, dass es Menschen gibt, die sich das zurück wünschen.
Selbst die privilegierte Familie Henselmann hat unter dem Regiem gelitten.

Abschießend bleibt neben dem tollen Einband (ich bin Kat Menschik Fan) mehr die Familiengeschichte, denn die Referenzen zur Architektur bei mir haften.
Der distanzierte, eher beschreibende Stil hat für mich keine Nähe zu den Personen aufkommen lassen; das machte deren Handeln noch schlimmer für mich.
Für Ost-Berliner, die die Gebäude kennen, bestimmt ein tolles Buch. Auch für Menschen mit Interesse am Leben in der DDR ist 'die Allee' aufschlussreich. Mir bleibt das Buch aber weniger wegen der Architektur, als mehr wegen der soziologischen Aspekte in Erinnerung. Respekt für Florentine Anders für die Ehrlichkeit und den Mut das alles offen zu legen.