Großartiger Roman, viel mehr als man zunächst erwartet

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aennie Avatar

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Die Attentäter ist für mich viel mehr, als es auf den ersten Blick schien oder als der Klappentext erwarten ließ.
Was habe ich erwartet? Ein spannendes Jugendbuch um drei Freunde in Berlin, von denen einer „auf die schiefe Bahn gerät“, erst zum Islam konvertiert, dann an den IS gerät und nach einer Zeit im Nahen Osten nach Berlin zurückkehrt mit den schrecklichsten Plänen im Gepäck, die man sich nur vorstellen kann. Er kehrt zurück, trifft vielleicht auf sein altes Umfeld oder auch nicht, er setzt seine Pläne mit furchtbarem Ausgang in die Tat um, oder wird daran gehindert.

All das bekommt man, und noch viel mehr.

Die Attentäter ist die Geschichte eines jungen Mannes, der einen Terroranschlag in der deutschen Hauptstadt durchführen soll, aber es ist auch eine unglaublich tiefe, emotionale Schilderung eines Beziehungsgeflechts, ein Psychogramm dreier junger Menschen, die sich seit ihrer frühen Kindheit kennen und lieben. Alle drei sind fest miteinander verwoben und man ist auch sehr lange versucht, eine Dualität (nicht Rivalität) herauszustellen, die zweifelsohne wichtig ist, aber letztendlich ist klar, dass es immer eine Troika war. Es geht um Alain, Cliff und Margarete. Jeder ist das, was der andere nicht ist. Insbesondere trifft dies auf die beiden Jungen zu, aber auch Margarete fügt sich komplett logisch und passgenau in das Szenario ein: Alain, verkörpert vor allem in den Augen Cliffs, das ewig Gute, das Reine, Helle, Strahlende, der Engel. Cliff sieht sich selbst als das Dunkle, das Böse, den gefallenen Engel. Die beiden sind wie die ewig streitenden Gegenpole, Tag und Nacht, Schwarz und Weiß, Christ und Antichrist – über alle Zeiten und Grenzen hinweg, wie es seit Jahrtausenden in der Kunst oder der Religion verarbeitet wird, oder einfacher zwei Seiten einer Medaille, Gegensätze, die sich anziehen. Margarete, die „Vernünftige,“ das Regulativ, die Stütze, das Gerüst, das die beiden widerstreitenden Pole in der Waage hält. Auch die Familienherkunft der drei ist Teil des Gesamtbildes, Margarete, deren ganzes Familienumfeld von Stabilität und Bürgerlichkeit zeugt, Alain aus einer liberalen Künstlerfamilie, in der liebevolle Förderung der musischen Talente, Liebe und Gemeinsamkeit wichtig sind, Cliff aus einer zerbrochenen Familie, die Mutter stammt aus der Türkei, hat ihre Heimat verlassen, ihr ganzes Leben eine Rebellion gegen ihre Eltern, bekommt ein Kind mit einem Deutschen, der mindestens zu viel trinkt und zu Gewalt neigt und verlässt beide, um sich zu verwirklichen, zu studieren und Karriere in der Forschung zu machen. Cliff ist wie das logische Ergebnis dieser rebellierenden Mutter: sein ganzes Leben ein Aufbegehren, voller Zorn, Jähzorn und doch eigentlich nur der Wunsch nach Aufmerksamkeit, Liebe und Halt, erst die seiner Mutter, dann eine andere.
Alain und Cliff sind sozusagen vom ersten Tag an ineinander verliebt. Sie kollidieren mit kosmischer Gravitation und kleben aneinander und werden sich niemals voneinander lösen. Tatsächlich ist es auch so, dass beide mindestens eine bisexueller Neigung entwickeln, wobei ich denke, dass eigentlich beide homosexuell sind. Die Tatsache, dass beide auch mit Margarete schlafen, hat andere Gründe, die mit reiner Sexualität wenig zu tun haben. Alain hat keine Probleme damit, sich selbst seine Vorliebe für das eigene Geschlecht einzugestehen, Cliff hingegen schon.
Auf dieser gigantischen emotionalen Beziehungsplattform entspinnt sich die Geschichte der drei. Das Buch erzählt in drei verschiedenen Erzählebenen die markanten Eckpunkte in ihrer jeweiligen Geschichte miteinander und ohne einander. Erst am Ende wird klar, dass die Teile aus Margaretes Sicht eine etwas andere Zeitstellung aufweisen, sie sind jeweils an einen der beiden Jungen gerichtet. Alains und Cliffs Erzählungen setzen ein, an dem Tag, an dem Alain Cliff das erste Mal wiedersieht, nach dem dieser fast ein Jahr verschwunden war. Vor allem diese Teile schildern die Vergangenheit seit ihrem Kennenlernen vor 15 Jahren, ihren „Werdegang“ und die aktuellen Geschehnisse im Winter 2015. Sie berichten von ihrer Freundschaft, ihren Talenten, Cliffs Suche nach Halt, nach Regeln, die er schließlich im Islam zu finden glaubt, schließlich von seinen Erlebnissen in Syrien und im Irak, seine Rückkehr nach Berlin und Alains Bemühungen, herauszufinden, was mit Cliff los ist, was er plant.
Dieses Buch hat mir unglaublich gut gefallen. Die Erzählatmosphäre ist so leise, so emotional (so weit weg von kitschig wie es nur sein kann, nicht den Hauch) und berührend, gleichzeitig ist es natürlich auch spannend, erschreckend und beängstigend, ohne ein Thriller zu sein, einfach aus der Natur der Sache heraus. Es hat für mich eine Oberflächen- und eine Tiefengeschichte, und das hat mir unglaublich gut gefallen, es ist sicher eines der drei besten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe, auch eines das einem „nachhängt“.
Viele haben sich in ihren Rezensionen auch gefragt, ob es ein Buch für Jugendliche ist. Ich finde es nicht zu drastisch für das empfohlene Lesealter ab 16. Ich glaube allerdings auch, dass Menschen dieses Alters vielleicht nicht in Gänze das emotionale Ausmaß, die emotionale Großartigkeit der Erzählung erfassen können, im Großen wie im Kleinen. Also wäre der Rat vielleicht: lies das Buch, wenn du 16, 17 oder 18 bist. Lies es nochmal in 10 Jahren oder in 15 Jahren und du wirst eine ganz andere Tiefe erkennen.