Ein stiller Aufschrei gegen ein lautloses System

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Es gibt Bücher, die sich nicht aufdrängen – sie schleichen sich leise ins Denken und lassen einen nicht mehr so schnell los. „Die Ausweichschule“ von Kaleb Erdmann ist genau so ein Werk: unbequem, eindringlich und ehrlich.

Die Geschichte dreht sich um ein alternatives Schulsystem, das als „Ausweichlösung“ für Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarf geschaffen wurde. Was zunächst wie eine soziale Maßnahme wirkt, entpuppt sich im Verlauf als beklemmendes Spiegelbild eines Bildungssystems, das Kinder und Jugendliche zu oft nach Schema F sortieren möchte – und dabei individuelle Bedürfnisse, Talente und Geschichten übergeht. Erdmann schreibt dabei mit einer Klarheit, die weder beschönigt noch übertreibt. Genau diese Zurückhaltung macht seine Kritik umso wirkungsvoller.

Als Leserin Mitte dreißig, selbst Mutter eines Schulkindes, fühlte ich mich oft unangenehm ertappt. Nicht, weil ich persönlich Teil des Systems bin – sondern weil ich es kenne, miterlebe und vielleicht manchmal zu still bleibe. Der Roman hat mich dazu gebracht, über Verantwortung nachzudenken – meine eigene, die der Gesellschaft, die der Schulen.

Was mir besonders gefiel, war die Perspektivführung: Die Jugendlichen bekommen eine Stimme, und was sie sagen, ist manchmal roh, manchmal still, aber immer echt. Ihre Geschichten sind nicht nur tragisch, sondern auch voller Kraft und Hoffnung. Erdmann gelingt es, sie nicht als Opfer zu zeichnen, sondern als Menschen, die in einem schwierigen Umfeld ihren Platz suchen. Und manchmal auch finden.

Natürlich ist das Buch keine leichte Kost. Es lässt sich nicht einfach nebenbei lesen. Die Sprache ist präzise, aber nie distanziert – ein schmaler Grat, auf dem der Autor sicher balanciert. Einige Passagen hallten noch Tage später in mir nach. Nur selten habe ich in einem Jugendroman so viel emotionale und politische Tiefe erlebt.

Fazit:
„Die Ausweichschule“ ist kein Buch, das Antworten liefert. Es stellt Fragen – und zwar genau die richtigen. Für Leserinnen, die bereit sind, sich auf gesellschaftliche Widersprüche, stille Verzweiflung und leise Hoffnung einzulassen, ist es eine lohnende Lektüre. Für Eltern, Pädagoginnen und politisch Interessierte fast schon Pflicht. Kein Wohlfühlbuch – aber eines, das aufrüttelt. Und manchmal brauchen wir genau das.