Jahreshighlight!

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Wir folgen Kaleb Erdmanns persönlicher Geschichte, wie er seine Erlebnisse rund um den Erfurter Amoklauf 2002 verarbeitet. Dabei geht es weniger um die Tat selbst, sondern vielmehr um den Umgang damit und die Frage, ob er überhaupt berechtigt ist, dieses Buch zu schreiben – schließlich hat er keine Toten gesehen. Dieser innere Monolog, dieses Ringen mit sich selbst, ist so fesselnd, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann.

Die Figuren, die Erdmann einbettet, sind klug gewählt. Da ist der namenlose Dramatiker, der nur „der Dramatiker“ heißt und in Bamberg ein Theaterstück über den Amoklauf inszeniert. Und da ist Hatice, Erdmanns Partnerin, deren Arbeit als Kunstkuratorin Werke hervorbringt, die stellenweise drastischer wirken als seine eigenen Erlebnisse des Amoklaufs.

Hinzu kommt der Umgang mit der Tat in den frühen 2000er-Jahren, der eindringlich vor Augen geführt wird. Kaum vorstellbar, dass nur eine einzige Traumatherapeutin für alle Betroffenen zur Verfügung stand. Der Ort der Ausweichschule wird hier zum Sinnbild für das Verschieben des Leids – für ein Aufschieben auf später, statt ein unmittelbares Auseinandersetzen. Besonders einprägsam sind auch die Passagen, in denen Erdmann die Person Robert Steinhäuser aufgreift, Spiegel-Artikel mit den Eltern einbindet und die Trauerfeier im Erfurter Dom so bildlich beschreibt. All das gibt dem Buch eine eigene Note: weg von der Obsession mit dem Täter, hin zu der Frage nach dem „Wie lebt es sich weiter“ und dem Versuch, zu vermenschlichen.