Spannende Zeitgeschichte, geniale Erzählkunst!

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"Die Bücher, der Junge und die Nacht" von Kai Meyer erschien (HC, geb. 496 Seiten) 2022 im Verlag Droemer Knaur. Auf diesen Roman war ich aufgrund der Thematik (die Liebe zu Büchern und Zeitgeschichte) mehr als neugierig; da ich Kai Meyer's "Die Alchimistin" vor Jahren sehr begeistert gelesen habe und vom Stil des Autors, der es mühelos schafft, den Leser mit auf Zeitreisen zu nehmen und eine unglaubliche Nähe zwischen den sehr gut ausgeleuchteten ProtagonistInnen und den LeserInnen herzustellen, sehr beeindruckt bin. Er zählt damit zu meinen favorisierten deutschen Erzähltalenten durch seine Themen und seinem atmosphärischen Schreibstil.


Die Haupthandlung dieses Romans dreht sich um das Auffinden eines verschollen geglaubten mysteriösen Buches, das nur einmal gedruckt wurde und im Grunde zum Selbstgebrauch bestimmt war:


Leipzig, Graphisches Viertel : (Zeit des 2. Weltkriegs)


"Das Alphabet des Schlafs" bekommt 1943 Jakob Steinfeld, Inhaber des Antiquariats "Montecristo" (spezialisiert auf Abenteuerliteratur, Geheimbund und Logenromane sowie romantische Literatur) von einer jungen Frau mit der Bitte unterbreitet, das Buch zu binden; mit dem Vater, einem Verleger namens Konrad Pallandt, hat sich Jakob nicht grundlos überworfen hat. Jedoch hat Jakob die Tochter namens Juliane (Juli), sofort nach ihrem Erscheinen in der Buchbinderwerkstatt bereits in sein Herz geschlossen und eine dramatische Liebe beginnt, da Juli nach wenigen Tagen ihres Kennenlernens spurlos verschwindet...


40 Jahre später; Barockschloss der Verlegerfamilie Pallandt, bei München:


Marie, eine bekannte Bibliothekarin und Sachverständige für Bibliotheken und wertvolle Bücher, soll die Bibliothek von Maximilian Pallandt, Sohn des Verlegers Konrad P. schätzen und veräußern: Sie entdeckt darin ein Konvolut von Büchern, die von Jakob Steinfeld gebunden wurden; einer der besten Buchhändler Leipzigs zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Gemeinsam mit Robert Steinfeld, mit dem sie nicht nur den Beruf und die Leidenschaft für Bücher teilt, sondern auch eine Liaison vor Jahren hatte, begibt sie sich auf Spurensuche und hilft ihm fortan, der Geschichte um das Geheimnis des "Alphabet des Schlafs" auf den Grund zu gehen; denn dieses Buch könnte letzten Endes die wahren Eltern von Robert und den Grund seiner Gefangenschaft als Junge während der ersten 10 Lebensjahre enträtseln.


Wir begegnen vielfältigen Charakteren auf dieser literarischen und für Robert sehr persönlichen "Spurensuche" - sowohl in der Vergangenheit als auch 1971: So lernen wir Grigori Gomorov, Gärtner und besonders im Winter Mitarbeiter von Jakob sowie sein bester Freund in der Zeit der Nazidiktatur kennen (und schätzen); Juli, die Verlegertochter Pallandt, die im Roman eine Hauptrolle einnehmen wird; ihren Bruder Maximilian und die Mutter Aurelia. Die Mutter frönt der okkulten Literatur und ist so besessen von derartigen Werken wie einige historische Figuren der Nazis, z.B. Himmler: Sie verlegt diese Bücher (zum Mißfallen ihres Mannes Konrad) in einem eigenen, sehr reaktionären Verlag und macht auch vor "Experimenten" nicht halt, der ihre Töchter anheimfallen. Auch Mena, Julis Schwester sollten wir später einen Besuch abstatten. Mit Grigori begegnen wir auch der legendären "Rabenfrau", die nachts über die Dächer Leipzigs auf einem Seil tänzelt und Grigoris Herz eroberte.


Ein wichtiger Hauptcharakter ist ausser den Büchern, um die es in oftmals poetischer Weise geht, ausser Jakob, Juli, Robert und Marie von Beginn an der mysteriöse "Maskenmann", der Bücherdieb, der Robert aus der brennenden Villa rettete und ein Jahr während des Krieges mit ihm durchs zerstörte Deutschland ziehen sollte: Immer auf der Suche nach Raritäten, die nicht den Flammen zum Opfer gefallen waren. Ist dieser Bücherdieb identisch mit dem finsteren Bibliothekar der Pallandts; Mercurio oder auch Flügelschlag genannt, mit dem Konrad Pallandt einst einen Pakt einging?


Die beiden Zeitebenen, die immer wieder wechseln, lassen die Spannung fast unmerklich sich steigern und sind historisch interessant, da man einige Fakten über die alte Bücherstadt Leipzig und das Graphische Viertel erhält; zudem fand ich Informationen zu wertvollen und vergessenen Büchern, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und Buchmessen sehr interessant (ich habe auch einige Dokus über Leipzig vor dem 2. WK angeschaut, die die beschriebene Atmosphäre des Romans noch verdeutlichen können). Großen Respekt habe und hatte ich vor Jakob, der als einer der besten Buchbinder Leipzigs galt und ein sehr aufrichtiger, sympathischer Mensch und Buchfreund war; ebenso wie Grigori, der den Garten beim Antiquariat "Montecristo" hegte und pflegte. Im letzten Romandrittel nimmt das Buch gar kriminalistische Züge an, so dass man als Leser schier den Atem anhält. Aber auch die Poesie, die trotz der historischen Zeitgeschichte hier und da einfließt, hat mir sehr gefallen:


Etwa am Ende, als Robert und Marie, die mit Büchern handeln und somit Traditionen fortführen, feststellen, dass "die eigene Bibliothek zu platzen droht, aber dennoch immer mehr Bände hinzukommen:


- vor allem die alten, die verblichenen, die Geschichten, aus denen ein Ruf ertönt, der durch die Jahrhunderte hallt." (Zitat S. 495)


Fazit:


Mit sehr großem Erzähltalent verwebt Kai Meyer sehr gekonnt und mit atmosphärischer Dichte, teils düster, teils hoffnungsvoll in seinem neuen Roman Zeitgeschichte und Historisches zur Bücherstadt Leipzig; zwei Liebesgeschichten (anno 1943/1971) sowie vor allem die Liebe zu Büchern und die Spannung eines Kriminalromans. Der Roman ist gleichbedeutend mit einer abenteuerlichen Suche nach dem Geheimnis und auch dem Vermächtnis eines Buches, das für Robert Steinfeld existenziell wichtig ist und in dem es Kai Meyer gelingt, seine Leserschaft auf eine spannende Zeitreise mitzunehmen - sehr große Nähe zu den Figuren herzustellen: Großartig, spannend und eine Liebeserklärung an die Welt der Bücher!