Niveauvolle historische Unterhaltung!

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Allgemeines
Zweiter Teil der Geschichte der Charité
Erschienen am 17.09.2019 bei Rowohlt Polaris als broschiertes TB mit 544 Seiten
Gliederung: Prolog – drei Bücher mit insgesamt 30 Kapiteln - Epilog – Nachwort – Danksagung – Bibliographie
Erzählung in der dritten Person, hauptsächlich aus den Perspektiven der beiden Protagonistinnen Dr. Rahel Hirsch und Barbara Schubert
Handlungsort und -zeit: Berlin, 1893 (Epilog), 1903 bis 1919 (Hauptteil), 1938 (Epilog)

Inhalt
Im Mittelpunkt der Erzählung stehen zwei sehr unterschiedliche Frauen, die aber das gemeinsame Anliegen vereint, sich für Frauenrechte und Gleichberechtigung einzusetzen: Dr. Rahel Hirsch (1870 – 1953) und die fiktive Arbeiterin Barbara Schubert.
Rahel wird als Ärztin an der Charité angestellt, bezieht zu Beginn als „Volontärin“ im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen jedoch nicht einmal ein Gehalt. Als Frau wird sie von den männlichen Ärzten erst nach und nach akzeptiert und dass sie Jüdin ist, macht ihre Situation nicht einfacher. Doch Rahel arbeitet sich unbeirrt und engagiert voran und wird schließlich als erste Frau im Königreich Preußen zur Professorin ernannt.
Nachdem die Wäscherei-Arbeiterin Barbara Schubert Rahel aus einer misslichen Lage geholfen hat, freunden die beiden ungleichen Frauen sich an. Auch Barbara kämpft auf ihre Weise um mehr Freiheiten und Rechte für Frauen, sie besucht Vorträge von Frauenrechtlerinnen und tritt in die SPD ein, sobald Frauen die Mitgliedschaft in politischen Parteien erlaubt ist.
Als der Erste Weltkrieg ausbricht, erhalten alle Frauen mehr Freiheiten als in der Vorkriegszeit, zumal sie die an der Front befindlichen Männer im Berufsleben ersetzen müssen, aber Rahel und Barbara bekommen das Grauen des Krieges anhand der schwerstverletzten und verstümmelten Soldaten, die in der Charité behandelt werden, auch unmittelbar vor Augen geführt – und sie leiden wie alle anderen Zivilisten unter Nahrungsknappheit, außerdem müssen sie täglich um das Leben der ihnen nahestehenden Männer an der Front fürchten.

Beurteilung
Der zweite Roman um die Charité steht zum ersten Buch „Hoffnung und Schicksal“ in keinem unmittelbaren Zusammenhang und kann deshalb einzeln gelesen werden.
Im ersten Teil des Romans geht es vorwiegend um medizinische Fortschritte des frühen 20. Jahrhunderts, einer Zeit, in der die systematische Forschung immer mehr an Bedeutung gewinnt, neueste Erfindungen und Entdeckungen, so z.B. die Verwendung von Röntgengeräten für die Untersuchung des Körperinneren, etabliert und erste Chemotherapeutika (Salvarsan gegen die Syphilis) entwickelt werden.
Schließlich richtet sich der Fokus auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen, hierbei wird dem Ersten Weltkrieg mit seinem Grauen und seinen Entbehrungen viel Raum eingeräumt sowie auch dem damit einhergehenden technischen Fortschritt, der Fliegerei.
Die Autorin hat sehr gründlich recherchiert und schildert das Leben in Berlin vor dem Hintergrund der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ebenso eindrücklich wie anschaulich. Dabei verleiht sie sowohl den historischen Persönlichkeiten als auch den fiktiven Romanfiguren, die repräsentativ für die Arbeiterklasse stehen, unverwechselbare, gut ausgearbeitete Charaktere.
In ihrem Nachwort „Dichtung und Wahrheit“ geht Ulrike Schweikert auf das weitere Leben von Dr. Hirsch und auf die von ihr vorgenommenen fiktiven Ergänzungen ein. Eine umfangreiche Bibliographie bietet dem interessierten Leser eine Auswahl an Sekundärliteratur zu medizingeschichtlichen und politischen Themen sowie zu einigen berühmten Persönlichkeiten der Zeit.
Das Buch ist mit einem Foto der Charité in der vorderen und einem Stadtplan Berlins in der hinteren Umschlagsklappe auch äußerlich sehr schön gestaltet.

Fazit
Ein Roman, der interessante (medizin)geschichtliche Einblicke mit einem äußerst fesselnden Erzählstil verbindet, so bleiben für Freunde niveauvoller historischer Unterhaltung keine Wünsche offen!