Einblicke in die Charité der 1830er Jahre

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hennie Avatar

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Schon von der ersten Seite an ist man mitten im Geschehen. Wir befinden uns im Jahre 1831 an einem sehr heißen Augusttag an der Spree in Berlin.
Überall wird gemunkelt, dass die Cholera im Ausland umgeht, aber die Bewohner fühlen sich sicher. Angeblich wurden wirksame Vorkehrungen getroffen an den Grenzen zum Osten. Doch den Schiffer Hans Mater ereilte die asiatische Cholera an seinem freien Tag. Er geht an Land in eine naheliegende Kneipe. Binnen kurzem fühlt er sich schlecht und dann geht es rasend schnell. Trotz ärztlicher Hilfe verstirbt er qualvoll innerhalb weniger Stunden. Die Leiche schafft man in die Charité zur Obduktion. Bald herrscht Ausnahmezustand in Berlin. Die Seuche wütet und fordert hauptsächlich ihre Opfer in den ärmsten Schichten der Bevölkerung.

Ulrike Schweikert zeichnet ein einprägsames, lebendiges Bild der gesellschaftlichen Umstände in Berlin der 1830er Jahre und im speziellen eine realistische Beschreibung der Zustände in der Charité. Die Personen, die zum Teil authentisch sind, läßt sie ganz natürlich miteinander agieren. Ich entwickelte beim Lesen große Sympathien für die Stadthebamme und spätere Totenfrau/Sektionsassistentin Martha Vogelsang und deren Sohn August, für die Krankenwärterin und spätere Diakonisse Elisabeth Bergmann, für Professor Johann Friedrich Dieffenbach (1792 – 1847) und für die Gräfin Ludovica von Bredow. Ebenso große Antipathien empfand ich für den hypochondrischen Grafen von Bredow und für Professor Rust, der trotz Altersschwäche und damit verbundenem Unvermögen zu operieren, nicht von seinem leitenden Posten weichen wollte und damit viel Unheil anrichtete.
Viel Beachtung schenkt Ulrike Schweikert in ihrer Story den drei weiblichen Protagonisten aus unterschiedlichen Gesellschaftschichten. Dabei gelingt es ihr hervorragend den Zeitgeist einzufangen und die Stellung der Frau, ihre stark eingeschränkten Rechte zur damaligen Zeit herauszuarbeiten. Schön fand ich auch die beiden Liebesgeschichten, die nicht aufgesetzt, sondern natürlich wirken.
Professor Dieffenbach beklagt die elenden Verhältnisse in Berlin, wie die Menschen leben müssen. Er gehört zu den fortschrittlichen Medizinern und setzt sich mit der fiktiven Gräfin für die Gründung einer Krankenpflegeschule ein. Das qualitative Niveau in der Krankenversorgung ist ihm wichtig. Die hygienischen Zustände in der Charité sind eine Katastrophe. Die Beschreibung der Situationen in den Krankensälen, bei den Operationen und bei den Obduktionen gelingt der Autorin sehr anschaulich. Für sensible Menschen ist das nichts. Die Gerüche, ja der Gestank, die eitrigen, brandigen, schwärigen Wunden, die Überbelegung, die lieblose Versorgung und Pflege der Patienten durch die ruppigen, ungebildeten Krankenwärter - ich konnte mir das alles lebhaft vorstellen. Operationen, Amputationen erfolgen ohne Betäubung. Ärzte, die soeben noch Tote sezierten, kehren zum lebenden Kranken zurück, helfen den Frauen beim Gebären. Die Sterblichkeitsrate ist immens hoch. Dass überhaupt jemand geheilt die Charité wieder verließ, grenzte an Wunder. Teilweise fühlte ich mich ins Mittelalter versetzt. Um die Miasmen zu vertreiben, geht täglich eine Räucherfrau durch die Krankenräume des Hauses. Das war alles an Desinfektion!
Auch in der Psychiatrie ein beklagenswertes Bild, ein regelrechtes Horrorszenario!

Auf 491 Seiten, in 31 Kapiteln und in drei Teilen wird ein wunderbar stimmiges Stück Zeitgeschichte über das berühmte deutsche Krankenhaus in einer anschaulichen Art beschrieben. Fiktive und realistische Persönlichkeiten bilden eine Einheit. Das Buch ist voller interessanter Informationen. Durch intensives Quellenstudium, Recherchearbeit und durch die perfekte Verflechtung von Fantasie und Wirklichkeit gelang es der Autorin dem Leser eine Zeit nahezubringen, in der die moderne Medizin noch in den Kinderschuhen steckte.

Von mir gibt es die Höchstbewertung und eine unbedingte Lese-/Kaufempfehlung!