Potential verschenkt

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
stephanus217 Avatar

Von

Eigentlich dachte ich, die Autorin würde dem Leser einen kleinen Einblick in das tatsächliche Geschehen in einer diplomatischen Vertretung ermglichen. Diese Erwartung wurde nicht wirklich erfüllt.

Wir begleiten Friederike Andermann, von allen nur Fred genannt, die nach ihrem Studium eine steile Karriere im diplomatischen Dienst gemacht hat und die, als sie in Montevideo als Botschafterin berufen wird, sie noch keine 50 Jahre alt ist. Ihre Amtszeit in Uruguay verläuft aber von Anfang an unglücklich und wird von einem tragischen Entführungsfall überschattet.
Zwei Jahre später wird sie als Konsulin nach Istanbul berufen und betreut dort prominente türkischstämmige deutsche Staatsangehörige und hilft so, auch mal unkonventionell, zusammen einer Anwältin und einem deutschen Journalisten, ihren zumeist von staatlichen Repressalien und Verfolgung bedrohten Schützlingen.
Der Kreis schließt sich - vorläufig - in Hamburg, als Freds Mutter schwer erkrankt.

Irgendwie ist man als Leser bis zum Schluss auf der Suche nach dem roten Faden. Im ersten Teil in Montevideo, immerhin fast 1/3 des Buches, geht es mehr oder weniger um die Beschwerlichkeiten des Seins am Ende der Welt; eine etwas nervige Larmoyanz ist da unverkennbar. So stellt sich die Planung der Feier zum Tag der deutschen Einheit als nachgerade unüberwindliches Hindernis heraus: das ist albern. Dagegen ist die tragisch endende Entführung einer Promitochter eher nur Beiwerk.
Und von der Burschikosität, die der Rufname "Fred" doch sicherlich assoziieren soll, ist gar nichts zu erkennen.
- Da war ich kurz davor, das Buch zur Seite zu legen -

Im Hauptteil in Istanbul fühlt man sich dann, ich denke gewollt, permanent an den "Fall Deniz Yücel" erinnert, der vor einiger Zeit breite Öffentlichkeit gefunden hatte. Aber auch hier fehlen mir Diplomatie-interne Aspekte. Berichtshaft wird beschrieben, wie es gelungen ist, Dissidenten außer Landes zu schaffen, raus aus einem Land, das mehr und mehr in einen totalitären Staat abzugleiten droht. Dieser Abschnitt könnte exakt so auch aus einem Politthriller stammen oder - vielleicht mit kleinen Änderungen - aus einem längeren Zeitungsbericht.

Welche Funktion der Schluss in Hamburg für die Geschichte haben könnte, war für mich nicht erkennbar.

Dennoch, das Sujet ist interessant, die Story hat durchaus spannende Momente und das Buch ist flüssig und unterhaltsam geschrieben. Insgesamt gar nicht schlecht, aber dem Klappentext ist die Geschichte nicht ganz gerecht geworden.