Die Geschichte der Dirigentin Antonia Brico packend und interessant erzählt

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gluexklaus Avatar

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Willy lebt 1926 in New York mit ihren Eltern in einer kleinen Wohnung. Ihr Vater ist Müllmann, die Mutter wacht akribisch über jeden Cent, den Willy in ihren zwei Jobs als Schreibkraft und Platzanweiserin bei klassischen Konzerten im Konzerthaus verdient. Willys Leidenschaft gilt der Musik, sie übt zu Hause auf einem kaputten Klavier und lauscht heimlich Konzerten auf der Männertoilette, dabei liest sie Partituren und dirigiert mit. Beim Konzert des berühmten Dirigenten Wilhelm Mengelberg setzt sie sich verbotenerweise mit einem Klappstuhl in den Gang des Konzertsaals und verliert deshalb ihren Job. Für Willy ist das Auslöser genug, ihr Leben komplett zu ändern und sich nun völlig der Musik zu widmen. Sie setzt alles daran, am Konservatorium als Klavierschülerin aufgenommen zu werden. Doch ihr eigentlicher Traum ist noch ehrgeiziger: Sie möchte Dirigentin werden. Das gibt es bis dato nicht: „Die Musikwelt ist so hinterhältig. Gerade die großen Dirigenten sind alle Männer mit narzisstischen Zügen und einem überdimensionierten Ego.“ Wie soll sich da eine junge Frau durchsetzen können?

Drehbuchautorin und Regisseurin Maria Peters schreibt in der ersten Person aus drei verschiedenen Perspektiven, aus Willys, Robins und Franks. So erhält der Leser drei individuelle Sichtweisen ein und derselben Geschichte. Der Text liest sich flott und unkompliziert. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, mich auf die Geschichte einzulassen.

Eine wirkliche beeindruckende Person ist Willy, die im Lauf der Geschichte ihre Wurzeln erkennt und den Namen Antonia Brico annimmt. Sie gibt niemals auf, lebt für ihren Traum und ihre Leidenschaft, steht mutig zu ihren Ansichten und ist dabei manchmal ganz schön frech. Im Roman heißt es „In seinem Buch über Bach schreibt Schweitzer, es sei einer der Charakterzüge schöpferischer Menschen, dass sie auf ihren großen Tag warten würden und dass sie, bis es so weit ist, alles in dieses Warten investieren, bis zur Erschöpfung. Das ist meine Geschichte.“ Treffender hätte Antonia sich selbst nicht beschreiben können, sie bezeichnet sich zudem als „so verrückt“, ihr „anderes Leben für die Musik zu opfern“. Antonia zeigt, was es heißt, auf Liebe zu verzichten und durchzuhalten: „Das große Wissen ist, mit Enttäuschungen fertig zu werden“. Immer wieder wird auf Albert Schweitzer Bezug genommen, der zwar nicht direkt im Roman vorkommt, aber später einer der engsten Freunde Antonias werden soll.
Auch Robin, den Willy auf der Arbeitssuche kennenlernt und auf den sie sich von da an immer verlassen kann, ist ein ganz besonderer Mensch, für den Musik alles bedeutet. Wie besonders er ist, wird erst im Laufe der Geschichte klar. Dagegen wirkt Frank Thomson, der mit der Organisation und Vermittlung von Künstlern zu tun hat, eher konventionell und blass. Auch die Dirigenten Wilhelm Mengelberg oder Karl Muck erscheinen im Vergleich zu ihm wesentlich schillernder und komplexer. Ziemlich extrem, einseitig und negativ wird hingegen Antonias Mutter dargestellt, ihre Rolle erinnert an die der „bösen Stiefmutter“.

Antonias Geschichte führt von New York, über die Niederlande nach Deutschland und wieder nach Amerika zurück. Von Antonia Brico hatte ich zuvor nicht nie etwas gehört. Doch dass es diese außergewöhnliche Frau wirklich gab, viele im Buch vorkommenden Szenen nicht erfunden sind und berühmte Persönlichkeiten wie Mengelberg oder Muck real existierten, macht das Buch zu einer hochinteressanten, fesselnden Lektüre. Antonia geht ihren Weg gegen Widerstände. Auch wenn es bis heute kaum erfolgreiche Dirigentinnen an die Spitze geschafft haben - vermutlich haben einige Männer immer noch Schwierigkeiten damit, dass eine Frau als „Taktstocktyrannin“ den Ton angibt- hat sie für sich einiges erreicht und dient anderen als Vorbild. Es reicht manchmal, wenn man seiner eigenen Meinung nach ein Held ist.
Stellenweise, wenn es um Antonias Liebesgefühle geht, driftet der Roman ein klein wenig ins Kitschige ab, fängt sich aber zum Glück rasch wieder.
Recht erhellend waren für mich die Betrachtungen über Musik, wie der Satz „Bach war ein Komponist, der die Sprache Gottes beherrschte“ oder die Erläuterung des Bruckner-Problems, als das Nebeneinander von mehreren Fassungen derselben Symphonie. „Musik ist eine Sprache“. „Die Dirigentin“ spricht verschiedene Sprachen, die der Hauptfiguren, eine, die historische und gesellschaftliche Hintergründe anschaulich darstellt und natürlich auch die der Musik. Das macht diesen Roman zu einem vielschichtigen, anregenden und lesenswerten.