Dorf ohne Idylle

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kainundabel Avatar

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Da hängt er, der kleine Steinlachner Seppi, schaukelnd mit dem Kopf nach unten, baumelnd am Ast eines Apfelbaums. Ein paar Jahre später wird er wieder genau an diesem Ast hängen, baumelnd, mit den Füßen nach unten. Diesmal ist er mit einem Strick unter dem Arm hergekommen, auf den Kirschkernhügel von Krimmwing, dem Dorf in Österreich, gute Luft, gute Berge, exzellente Wasserqualität und mit Bewohnern gesegnet, die argwöhnisch auf alles schauen und hören, was anders ist, was ihren Normen zuwiderläuft. Man hört hin und schaut hin, man hört weg und schaut weg. Man hört und sieht alles, was man hören und sehen will. Da gibt es so manches, was sich mit ihrer Vorstellung von Ordnung und Normalität nicht deckt. Sei es Lorenz Karl Ignatius Rathbauer, kurz El-Kah-Ih, der sich schminkt und dessen Körper ihm selbst fremd ist. Oder Liesl, die ihre Leibesfülle samt Anormalität im Stripteaseclub zur Schau stellt. Oder die alleinerziehende Rosa mit Seppi, ihrem dunkelhäutigen Buben, aber ohne den unerwünschten Vater. Er kommt halt nicht von hier.
Rätselhafte Cover-Illustration, paradoxer Titel, inhaltlich und sprachlich eine Wucht. Mit „Die dritte Hälfte eines Lebens“ ist Anna Herzig ein literarisches Kleinod gelungen. Schon die ersten Sätze faszinieren. Jeder weitere Satz scheint ihr mühelos zu gelingen, zielsicher in der Wortwahl, klar und schnörkellos, oft lakonisch, immer ehrlich und bei all dem wunderbar ausgefeilt. Dabei seziert sie die Machtverhältnisse im Dorf messerscharf, beobachtet bis ins kleinste Detail ohne zu bewerten, legt schonungslos offen, welche Verflechtungen bestehen und wie sie wechselseitig wirken. Nach nur 127 Seiten ist die Geschichte in der Tat auserzählt, und man wünscht dem schmalen, kleinen Bändchen möglichst viele Leser, auch wenn ich fürchte, dass der Preis so manchen vom Kauf abhalten wird.