So anders, so gut

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fraedherike Avatar

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"Alles könnte ich erzählen. Über Krimmwing und die Menschen. Die Schmerzen, die sie einem zufügen. Dass es keinen Unterschied macht, was man gehört hat, was die Leute sagen oder wie sehr man sich bemüht. Die Übung besteht darin, sich nicht in Nebensätzen zu verirren." (S. 7)

Es war einmal ein kleines Dorf in Österreich, das hieß Krimmwing. In Krimmwing kennt jeder jeden und jeder jedermans Angelegenheiten, denn die Menschen, die dort wohnen, sehen alles, sie reden und tratschen tagein, tagaus. Alles, was von der Norm, wie sie sie kennen, abweicht, wird von ihnen verurteilt; und entsprechend schwer haben es die, die anders sind.
Da ist etwa Lorenz Karl Ignatius Rathbauer, kurz El-Kah-Ih, der, als er zwölf Jahre alt war, feststellte, das er anders ist als alles ihm Bekannte. Er liebt es, sich vor dem Spiegel zu betrachten, der ihm eine Alternative aufzeigt: langes braunes Haar, rot bemalte Lippen. Und er hat einen Traum: Italien. Für immer weg aus Krimmwing und glücklich werden, der Mensch sein, der er in seinem Innersten ist. In ihrem Innersten ist auch Liesl ein ganz wunderbarer Mensch, doch wie die Leute nun sind, beurteilen sie erst das Äußere. Auch die junge Rosa hat es nicht leicht, ledig und alleinerziehende Mutter eines Kindes mit dunkler Hautfarbe. Der kleine Seppi versteht all die Aufregung nicht, die seineswegen gemacht wird, und er leidet: weil sein Vater in einfach zurückgelassen hat, zurück nach Südafrika gegangen ist; weil die Menschen über ihn reden, ihn ausgrenzen. Er sieht nur einen Weg, alldem ein Ende zu setzen. Und dafür braucht er nur ein Seil und einen Apfelbaum. Hat natürlich auch niemand gesehen, auch nicht geahnt. Aber auch Jahre später hat niemand in Krimmwing vergessen, was auf dem Kirschkernhügel passierte. Umso unangenehmer ist es für die Gemeinde, als Peter Dohringer, der kleine Seppi, nach Jahren wieder zurückkehrt.

"Es sind die kleinen Verbrechen an der Seele, die die inneren Blutungen ausmachen." (S. 11)

In ihrem Romandebüt "Die dritte Hälfte eines Lebens" skizziert Anna Herzig bildgewaltig und fragmentarisch, mit welch harten Worten und Handlungen die fiktive Krimmwinger Dorfgemeinde Menschen anderer Hautfarbe, sexueller Identität, gesellschaftlichen Standes oder eines anderen Phänotypen diskriminiert und ausschließt. Ihr sprachlicher Stil ist außergewöhnlich, sehr kantig und nüchtern, ohne jede Wertung; vielmehr lässt sie Worte ihre Wirkung zwischen den Zeilen entfalten - und die schlagen zu wie eine Faust. Ihre Protagonist*innen sind allesamt unglaublich liebenswert und sehr fein gezeichnet, und ich hatte sie alle direkt vor Augen - die Person an sich und ihr Leiden, die Angst, die sie ausstrahlen. Vieles bleibt vage, wird nicht bis zur Gänze ausgeführt, aber das passte hier stilistisch sehr gut und muss auch gar nicht sein. Haben wir nicht alle schon solche Situationen erlebt oder davon gelesen, wie oft wird in den Medien von Rassismus, diskriminierendem oder ausgrenzendem Verhalten, Gewalt gegenüber Minderheiten berichtet. Eindeutig zu oft.

So ist "Die dritte Hälfte eines Lebens" eine fulminante Gesellschaftskritik, die mit leisen Tönen und wenigen Worten, aber voller Dynamik so vieles ausdrückt, ein offener Appell, neu zu denken und sich und seine Gedanken zu öffnen. Eindrucksvoll und eine ganz große Empfehlung!