Schneeglöckchen in Moskau

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theresia626 Avatar

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„Die eiskalte Jahreszeit der Liebe“ von A. D. Miller beginnt mit einer interessanten Einführung in den Roman. Der Ich-Erzähler und gleichzeitige Protagonist Nick Platt hat seiner namenlosen Verlobten, die er drei Wochen später heiraten will, ein Geständnis aufgeschrieben. Er muß mit seiner Vergangenheit, speziell seiner Zeit in Moskau, vor der Hochzeit reinen Tisch machen, und es drängt ihn, „jemandem von Russland zu erzählen, selbst wenn es weh tut.“ (S. 10) Und das wird es.

Das Unheil nimmt seinen Lauf an einem Sonntag im September des vorhergehenden Jahres. Nick, ein junger englischer Anwalt, lernt in der Metro Maria Kowalenko, genannt Mascha, und Katja kennen, die nicht wirklich ihre Schwester ist. Er verliebt sich in Mascha, die, so erinnert er sich noch ganz genau, an jenem Tag einen komischen Herbstmantel der Breschnew-Ära trug, der von nahem aussah als wäre er aus Teppichresten und Strandhandtüchern zusammengesetzt, abgesetzt mit einem Katzenfellkragen. Die beiden Frauen erinnern ihn an „Venusfallen aus einem Spionagethriller des Kalten Krieges“ (S. 15), und das sind sie auch.
Eigentlich sollte Nick, der Kreditverträge für dubiose Klienten ausarbeitet, nur ein, höchstens zwei Jahre in der Moskauer Filiale seiner Firma arbeiten, inzwischen sind es fast vier geworden. Er führt ein sehr gutes Leben in Russland, verdient viel Geld, lebt auf der Sonnenseite und die Teilhaberschaft in seiner Kanzlei rückt immer näher. Aber er hat auch die Schattenseiten des Moskauer Lebens kennengelernt. Von seinem Freund Steve Walsh, einem Auslandskorrespondenten, dem er von einer Leiche vor seinem Haus berichtet, erfährt er, was im Moskauer Slang „Schneeglöckchen“ sind. „Leichen, die bei Tauwetter ans Licht kommen. (…) Schneeglöckchen: das Übel, das schon da ist, immer da ist, sehr nah; nur schafft man es irgendwie, sie nicht zu sehen, diese Sünden, die der Winter verbirgt, manchmal für immer.“ (S. 11) Diese Leiche wird Nick noch lange schwer zu schaffen machen.

Wenig später lernt er Tatjana Wladimirowna, die Tante von Mascha und Katja kennen, eine alte Babuschka, die noch stundenweise als Führerin in einem Museum arbeitet. Sie will ihre Wohnung verkaufen und aufs Land ziehen und Nick, so der Plan, soll ihr als ihr Anwalt hilfreich zur Seite stehen. Das wird ihr jedoch schon bald zum Verhängnis und Nick ahnt, daß er in etwas hineingezogen wird, aus dem es kein Entkommen gibt. Warum hat er Mascha und Moskau verlassen? Eine Frau, die er glaubt über alles zu lieben und eine Stadt, an der sein Herz hängt.

Der Autor A. D. Miller hat Literatur studiert und war von 2004 bis 2007 als Moskau-Korrespondent für „The Economist“ tätig. Er weiß Bescheid über das, was er schreibt. „Snowdrops“ oder „Die eiskalte Jahreszeit der Liebe“ ist ein wundervoller, detailreicher, wortgewandter, authentischer und lesenswerter Roman. Der Leser erfährt zwar nicht viel Neues über Russland, denn was der Autor schreibt, ist aus dem Fernsehen und aus Zeitungen hinreichend bekannt. Auf der einen Seite gibt es unermesslichen Reichtum, Korruption, Habgier und die Erkenntnis, daß man für Geld alles und jeden kaufen kann, auf der anderen Seite bittere Armut, Resignation und Zukunftsangst. Trotzdem entfaltet der Roman eine Sogwirkung, der man sich einfach nicht entziehen kann. Für mich einer der besten Romane in diesem Sommer. Eine Frage läßt der Autor unbeantwortet. Wird die namenlose Verlobte nach der Lektüre des Geständnisses von Nick Platt noch immer dem „großen Tag“ entgegenfiebern, den der Protagonist selbst als „Tag der Abrechnung“ (S. 10) bezeichnet?

Durch die unendlich vielen Hinweise des Erzählers ahnt der Leser frühzeitig, daß etwas Schlimmes passieren wird. Der Autor nimmt dadurch ein wenig die Spannung aus dem Roman. Alles in allem empfehlenswerte und ausgesprochen unterhaltsame Lektüre.