Menschen in Ost und West

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Birgit ist noch vor der Wende von der DDR zu einem Freund nach Westdeutschland geflohen. Sie hat jedoch ihr neugeborenes Kind zurückgelassen, denn von ihm wusste Kaspar nichts. Zudem wäre die Flucht noch schwieriger geworden.
Keinesfalls wollte sie es dem Kindsvater übergeben, der sie im Stich gelassen hatte und nun mit seiner unfruchtbaren Frau das Baby aufziehen möchte. Doch ihre Freundin und Geburtshelferin Paula brachte es nicht über sich, das Baby auf die Stufen eines Waisenhauses zu legen.
Birgit kommt mit dem Verlust ihres Kindes und der Ungewissheit über seinen Verbleib nicht zurecht, wird zur Alkoholikerin und stirbt, bevor sie die Suche starten kann. Ihr Mann Kaspar findet ihre Aufzeichnungen, forscht nach der Tochter und findet im Osten Deutschlands ein rechtsextremes Milieu vor, das ihn abstößt. Dennoch will er seiner Stieftochter ihr Erbe zukommen lassen.
Beim Lesen habe ich erschrocken mitverfolgt, wie verkehrt alles läuft, auf welche Vorurteile und Feindschaften ein Mann stößt, der verantwortungsbewusst handeln will, vor allem gegenüber Stieftochter Svenja. Sie und die gemeinsame Tochter Sigrun stehen unter der Fuchtel des gewaltbereiten, völkisch-faschistisch ausgerichteten Ehemannes Björn. Mit Freude las ich jedoch, was der Stief-Großvater seiner intelligenten und begabten Enkelin geben, welche Welt er ihr eröffnen kann. Doch im dritten Teil erfolgt eine unerwartete Kehrtwende, vieles läuft noch einmal in die falsche Richtung, in eine andere Welt, letztlich in einen anderen Erdteil.
Bernhard Schlink ist Jurist, und selbstverständlich kann er diesbezüglich in einem weiten Themenfeld schürfen. In den drei Teilen des Romans geht um Recht und Unterdrückung, um die völkische Gemeinschaft und um Vorurteile, um rechtsextreme Strömungen, Rassismus und Habgier. Meine Sympathien sind bei keiner Person ungeteilt. Birgit war Alkoholikerin und allzu unschlüssig, Kaspar scheint mir bei aller liebenden Fürsorge reichlich schwach. Svenja unterwirft sich zu sehr ihrem Mann Björn, Enkelin Sigrun schwankt zwischen den Welten. Doch Paula als Bindeglied ist die selbstlose Vermittlerin, der starke Angelpunkt, die vieles zum Guten lenkt.
Ein mitreißender Roman, spannend von A bis Z. Der Stil ist voller Leben, angefüllt mit Bildern, die Handlung hat einen flotten Drive. Viele Themen kommen zur Sprache, tiefgründig geht Schlink den Problemen und Missverständnissen nach. Mit wieviel Freude und Hoffnung hat man die deutsche Wiedervereinigung gefeiert, und wie schwierig ist sie teils noch heute. Seit längerem wieder der erste Roman, bei dem ich gleich hineingefunden und kein einziges Mal quergelesen habe.