Stimmig und fordernd

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webervogel Avatar

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Dass der kinderlose Buchhändler Kaspar Wettner je Großvater werden würde, hat er selbst nicht kommen sehen. Doch nach dem Tod seiner Frau Brigit deckt er deren Lebenslüge auf: Birgit hatte eine Tochter, die sie gleich nach der Geburt weggegeben hat – nur wenige Monate, bevor sie 1965 aus der DDR zu ihm nach Westdeutschland geflohen ist, wo sich die beiden in Berlin ihr gemeinsames Leben aufgebaut haben. Nun erfährt Kaspar, dass seine Frau lange damit gerungen hat, die verlorene Tochter wiederzufinden und beschließt, an ihrer Stelle zu suchen. Schließlich begegnet er Birgits Enkelin. Die beiden trennt vieles – ihre einzige Gemeinsamkeit ist die Neugier aufeinander.

In seinem neuesten Roman entführt Bernhard Schlink seine Leserinnen und Leser zunächst in eine andere Zeit und dann in eine andere Welt. Erst wird Birgits Geschichte erzählt, das Aufwachsen in der DDR thematisiert, ihre Abwendung vom Staat, ihre Flucht. Der westdeutsche Kaspar hat die DDR nur als Besucher erlebt, doch weitaus fremder als sie ist ihm die Welt, in der Birgits Enkelin Sigrun heranwächst: Sie lebt in einer völkischen Gemeinschaft mit klaren Feindbildern. Kaspar versucht, dem Mädchen seine Welt zu zeigen – unter den wachsamen Blicken der Eltern. Das fragile Band zwischen den beiden zieht sich über ein Spannungsfeld. Ich habe mitgebangt, ob es hält.

Egal welcher Weltanschauung, welchem Stück Zeitgeschichte sich Bernhard Schlink annimmt – er schildert es virtuos und scheut dabei weder Widerspruch noch Kritik. Mit klarer, präziser Sprache hat er auch hier wieder einen Roman geschaffen, bei dem einfach alles stimmt. Die Geschichte ist tragisch, stimmig und aufwühlend in einem, die Figuren haben Ecken, Kanten und immer Tiefgang. Es gelingt dem Autor, alle unterschiedlichen Motivationen irgendwie verständlich erscheinen zu lassen, ohne dass er es einer der Hauptfiguren besonders leicht machen würde. Denn eine klare Einteilung in schwarz und weiß, gut und böse – die gibt es bei Schlink nie. Ein sehr lesenswerter Roman, der extrem unterschiedliche deutsche Leben porträtiert und seine Leserinnen und Leser auch immer wieder dazu herausfordert, Position zu beziehen.