Studien aus dem "Wilden Osten" ?!?

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martinabade Avatar

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Diese Rezension kommt aus Mecklenburg.

Kaspar Wettner betreibt seit Jahrzehnten in Berlin eine Buchhandlung. Seine Frau Birgit hat zum Anfang auch im Laden mitgeholfen. Doch bald hat sie das nicht mehr erfüllt. Nach Monaten in einem indischen Ashram macht sie eine Ausbildung zur Goldschmiedin, dann eine zur Köchin. Dann beginnt sie vermeintlich zu schreiben. Schon lange sind Alkohol und Medikamente ihre Begleiter, als sie eines Tages in der Badewanne ertrinkt.

Kaspar geht in Birgits Schreibstube auf Spurensuche und findet Teile seiner eigenen und der gemeinsamen Vergangenheit. Die beiden, er aus dem Westen, sie aus dem Osten Berlins, lernen sich als Studenten in Ostberlin kennen. Bei Diskussionsveranstaltungen und in der Kneipe bei Ingrid. Nicht lange, und Kaspar setzt alle Hebel in Bewegung, dass Birgit zu ihm nach West-Berlin kommt. Die Flucht gelingt.

Aber Birgit hat Zeit ihres Lebens ein Geheimnis gehütet. Sie hat eine Tochter. Als sie 20jährig auf den Parteifunktionär Leo reinfällt, der sie dann in der Schwangerschaft sitzen lässt, bekommt sie das Kind und beauftragt eine Freundin, den Säugling direkt nach der Geburt auf die Schwelle des Pfarramtes zu legen.

Nach dieser langen Zeit beginnt Kaspar die Suche nach Birgits Tochter. Und findet sie in der Tat in einer völkischen Gemeinschaft in einem Dorf nahe Güstrow, in Lohmen, denn „ um Güstrow schien es die meisten zu geben - …“.
Und Kaspar findet nicht nur Birgits Tochter Svenja sondern auch deren 14jährige Tochter Sigrun und Svenjas Mann Björn, der den Gast gleich mal nach dem potentiellen Erbe der Mutter abcheckt. Diese Gier macht sich der frisch gebackene Stiefopa zunutze und ab sofort verbringen Sigrun und er Zeit miteinander in Berlin. Dies aber erst, nachdem Björn ihm das Versprechen abgenommen hat: Kein Alkohol, kein Piercing, kein Kino oder TV.

Vorneweg: Bei Bernhard Schlink ist der Leser oder die Leserin sprachlich auf der sicheren Seite. Keine Experimente, alles sauber durcherzählt. Da sind wir safe wie in Abrahams Schoss. Und natürlich blitzt auch immer wieder auf, dass Schlink gelernter Jurist ist. Bei der mittlerweile stetig anschwellenden Flut von Juristen und Juristinnen, die der Überzeugung sind, dass sie nicht nur Bücher juristischen Inhalts schreiben können, muss das nicht unbedingt sein. Die Leserschaft hat da teilweise schon lange Leidenswege mit belletristisch dilettierenden Staats- und Rechtsanwälten hinter sich.
Die Geschichte kommt langsam in Fahrt, zu langsam. Auf Seite 100 kann man den Eindruck bekommen, man befände sich im „Geteilten Himmel 2.0“.

Dann aber wird aus der Ost-West-Story, mit der Behäbigkeit der 31 Jahre Nachwende, eine sehr gegenwärtige Erzählung. Von der Neuen Rechten, von Menschen, die in deren Gemeinschaft die Struktur und Orientierung suchen und finden, die die heutige Gesellschaftsordnung nicht mehr vorrätig hält. Und die auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Über das letzte Drittel des Buches und vor allem über die Figur des „Opa Kaspar“ kann und soll sich jeder und jede eine eigene Meinung bilden.

Dieses Buch ist auf jeden Fall ein rechtschaffener Versuch, sich dem Phänomen erzählend zu stellen.