Vom Suchen, Finden, Loslassen und Verschwinden

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Bernhard Schlink: Die Enkelin

Vom Suchen, Finden, Festhalten und Verschwinden

Bernhard Schlink, Jahrgang 1944, ist einer der renommiertesten deutschen Autoren. In seinen Romanen greift er mit Vorliebe Themen der Deutschen Geschichte auf, bislang häufig Motive und Spannungsfelder rund um die Ära des Nationalsozialismus. In diesem, seinem neuen Werk, wendet sich Schlink der jüngeren deutschen Geschichte zu.

Protagonist Kaspar wird mit 71 Jahren plötzlich unter tragischen Umständen zum Witwer. Obwohl er mit seiner alkoholabhängigen Frau Birgit in letzter Zeit nicht mehr viele Gemeinsamkeiten pflegte, trifft ihn deren Tod hart. In ihrem Nachlass findet er Aufzeichnungen, von deren Inhalt er nichts wusste. Der erste Teil des Romans beschäftigt sich mit dieser Hinterlassenschaft, in der Birgit über ihre Vergangenheit in der DDR berichtet, bevor sie das Land 1965 mit falschen Papieren und auf Nimmerwiedersehen verließ. Sehr einfühlsam nähert sich Schlink dieser sprunghaften, zerrissenen Frau, die nicht nur unter dem Verlust von Heimat und Wurzeln zu zerbrechen drohte, sondern auch an der Ungewissheit, was mit ihrer unehelichen Tochter passierte, die kurz vor ihrer Flucht geboren wurde. Das Portrait Birgits, die sich äußerlich mit Kaspar eine bürgerliche Existenz in Berlin aufgebaut hat, innerlich aber von schlechtem Gewissen und Zweifeln zerrissen wurde, ist aus meiner Sicht wunderbar gelungen und zählt zu den Stärken des Romans. Ebenso ansprechend wird die west- und ostdeutsche Lebensrealität während der 1960er Jahre beschrieben, als es jungen Westberlinern noch möglich war, sich unkompliziert im Ostteil der Stadt mit Altersgenossen zu treffen.

Kaspar ist ein Mann, der seiner Frau immer Freiräume ließ, sie auch nicht wegen ihrer Sucht bedrängte. Für ihn war das ein Zeichen seiner innigen Liebe. Birgit hat indessen offenbar nicht nur an der Ungewissheit rund um ihre Tochter gelitten. Man liest auch starke Sätze wie: „Aber wenn ich eine Ostperspektive einbrachte oder eine Ostwendung gebrauchte, irritierte ich; es wurde erwartet, dass ich mit der Flucht alles Östliche, weil sowjetisch und kommunistisch, abgestreift hatte und jetzt war wie sie. Mir passierte im Kleinen, was ich den Ostdeutschen nach der Wende im Großen passieren sah.“ (S.112) Nicht nur das Ost-/West- Spannungsfeld wird abgebildet, man erkennt darin auch aktuelle Bezüge auf Herkunft, Wurzeln, Identität und Flucht.

Für Kaspar sind Birgits Aufzeichnungen ein Vermächtnis. Der zweite Teil des Romans beschäftigt sich mit Kaspars Suche nach der verlorenen Tochter, die seine Frau niemals wirklich eingeleitet hat. Hier verlässt Schlink meines Erachtens die dichte, authentische Erzählweise, die man von ihm kennt. Er findet Stieftochter Svenja erstaunlich schnell. Sie hat ein bewegtes Leben hinter sich und lebt heute in einer rechtsradikalen völkischen Gemeinschaft im ostdeutschen Niemandsland. Ihr Mann Björn ist ein despotischer, geldgieriger Neonazi, dem sie sich unterordnet. Es gibt die 14-jährige (Stief-) Enkelin Sigrun, die eher wie ein Kind denn wie ein Teenager beschrieben wird und sich mit der volksdeutschen Ideologie identifiziert. Auf sie projiziert Kaspar seinen Wunsch nach Wiedergutmachung. Sigruns Eltern lassen sich auf einen Handel ein, der es ihm ermöglicht, seine Enkeltochter kennenzulernen. Kaspars Ziel wird es sein, ihr die Welt mit ihren vielseitigen Möglichkeiten jenseits von Rassenlehre und Dogmatismus zu zeigen, damit sie in die Lage versetzt wird, einen eigenen neuen und selbstbestimmten Weg zu finden.

In diesem Abschnitt fühlte ich mich nahezu in ein Märchen versetzt, in dem sich Kaspar massiv der Mittel seines Bildungsbürgertums bedient, um die Enkeltochter zu erreichen. Wie eigentlich bei einem Teenager nicht zu erwarten, rennt er bei Sigrun mit Musik, Kunst und Literatur offene Türen ein. Die beiden unternehmen viel miteinander. Kaspar versucht behutsam, ihre nationale Glaubenslehre und die bestehenden Vorurteile gegenüber allem Undeutschen zu hinterfragen. Bewusst vermeidet er dabei den offenen Diskurs, zu groß ist seine Angst, das Mädchen zu verlieren. Hier wirken der Verlauf der Handlung sowie zahlreiche Annahmen und Entwicklungen konstruiert, unrealistisch und klischeebeladen auf mich. Zudem erscheinen mir viele Dialoge schlicht und scherenschnittartig, die Figuren eindimensional. Gut ist gut, böse ist böse – daher auch der Vergleich zum Märchen. Doch man liest ein Buch von Bernhard Schlink, der auch eingeschlagene Pfade wieder verlassen kann und letztlich doch zu überraschen weiß. Das beweist der Autor eindrücklich im dritten Teil, in dem er weitgehend zu seiner Klasse zurückfindet. Erneut gibt es Entwicklungen, die große Dramatik beinhalten, vieles hätte für mich eine Nummer kleiner ausfallen dürfen. Doch mit dem Ende hat er mich wieder einigermaßen versöhnt. Man darf in diesem Roman nicht alles hinterfragen und auf Glaubwürdigkeit prüfen wollen.

Im Kern geht es in „Die Enkelin“ also um Suchen und Finden, um Herkunft und Wurzeln, um aktuelle gesellschaftspolitische Strömungen, denen sich die Demokratie und jeder Einzelne entgegenstellen muss. Es geht aber auch die Entwicklungsgeschichte eines jungen Mädchens, das sich zwischen verschiedenen Interessen behaupten und ihren eigenen Weg finden muss.

Ich bin sicher, dass dieser Roman eine breite Leserschaft begeistern wird. Er ist aus meiner Sicht weit konventioneller geschrieben als die bisherigen Werke, die ich von Bernhard Schlink kenne. Das Gros der Handlung kann man leicht verfolgen, die Spannungsfelder werden offensichtlich und leicht verständlich dargelegt. Trotzdem regt „Die Enkelin“ zum Nachdenken an, zumal Schlink mit dem Ende überrascht und nicht alles auserzählt.

Ein Roman, den ich gerne gelesen habe, der gewiss nicht langweilig ist. Man sollte nur nicht zu kritisch hinterfragen, dann wird man, wie zahlreiche uneingeschränkt positive Rezensionen beweisen, das Buch mit großer Befriedigung zuklappen.