Zwiespältiger Eindruck
Bernhard Schlink ist seit seinem „ Vorleser“ ein Autor, dessen Bücher regelmäßig auf den Bestsellerlisten landen. Sein Thema ist immer wieder die Frage nach Schuld und Verantwortung und er zeigt anhand fiktiver Figuren, wie historische Umstände und Zeitgeschichte auf menschliche Schicksale einwirken. So auch in seinem neuesten Roman „ Die Enkelin“.
Sein Protagonist ist Kaspar, ein Berliner Buchhändler, Anfang 70. Verheiratet ist er mit Birgit. Die beiden haben sich 1964 kennengelernt beim Pfingsttreffen der deutschen Jugend in Ostberlin. Kaspar, der Westberliner Student, verliebt sich gleich in die ostdeutsche Studentin und er wäre bereit gewesen, zu ihr nach Ostberlin zu ziehen. Aber die lebenshungrige Birgit möchte in den Westen. „ Ich wollte nicht das bisschen Land zwischen Erzgebirge und Ostsee. Ich wollte die Welt.“ Kaspar organisiert die Flucht, über Prag nach Westberlin. Die beiden heiraten, bauen gemeinsam eine Buchhandlung auf. Doch Birgit bleibt ruhelos, immer auf der Suche, nie kommt sie wirklich an. Kaspar hat Verständnis für die Umtriebe seiner Frau und liebt sie noch immer. Obwohl sie es ihm nicht leicht macht. Schon lange ist der Alkohol Birgits Begleiter, doch mittlerweile trinkt sie, um ihre Depressionen zu verdrängen. So oft kommt Kaspar von der Arbeit nach Hause und findet seine Frau völlig betrunken vor. Doch dieses Mal ist sie tot, ertrunken in der Badewanne.
Kaspar ist voller Trauer, trotz der Entfremdung der letzten Jahre. Als er von einem Verleger nach Birgits Manuskript gefragt wird, ist er überrascht. Dass seine Frau geschrieben haben soll, davon wusste er nichts. Er macht sich auf die Suche nach den Aufzeichnungen und als er diese findet, muss er feststellen, dass seine Frau ein weitaus größeres Geheimnis vor ihm verborgen hielt.
Birgit war vor ihrer Flucht schwanger und hat damals das Neugeborene zur Adoption freigegeben. Dem Kindsvater, ein verheirateter Funktionär, wollte sie die Tochter nicht lassen.
Kaspar, erschüttert vom Gelesenen, macht sich nun auf die Suche nach der Tochter seiner verstorbenen Frau. Er findet sie in einer völkischen Siedlung in Mecklenburg. Svenja ist verheiratet und hat eine 14jährige Tochter, Sigrun. Kaspar merkt schnell, dass er keinen Zugang findet zu der verbitterten Svenja, aber das junge Mädchen weckt großväterliche Gefühle in ihm. Er möchte Sigrun aus dem Nazi- Milieu herausholen. Gegen Geld bekommt er die Zusage, das Mädchen in den Ferien zu sich zu holen. Unter den Bedingungen „ kein Fernsehen und kein Kino, keine Zigaretten, keine Jeans, keinen Lippenstift, kein Piercing“ darf Sigrun zu ihm nach Berlin.
Vorsichtig versucht Kaspar sich seiner „ Enkelin“ zu nähern. Er will ihr eine Welt jenseits der Nazi- Ideologie nahebringen, besucht deshalb mit ihr Museen und klassische Konzerte, gibt ihr Bücher zum Lesen. Er entdeckt ihr musikalisches Interesse und bezahlt ihr Klavierstunden. Bei Diskussionen über ihr Weltbild will er behutsam Zweifel säen, ihr die Augen öffnen. „ Er musste Sigrun eine andere Welt erleben und andere Erfahrungen machen lassen, als ihre Eltern sie ihr boten.“ Dabei riskiert er, dass ihm Sigrun wieder entzogen wird.
Der Roman besteht aus zwei Teilen, wobei jeder für sich genug Stoff für ein Buch geboten hätte. Dabei ist für mich der Anfang der wesentlich gelungenere Teil. Einfühlsam beschreibt Schlink das Leben und die Gefühlslage dieses unterschiedlichen Paares. Kaspar und Birgit sind beide ambivalente Figuren. Kaspar ist der immer Gute, der Verständnisvolle, - „ Ich bin ein bisschen aus der Zeit gefallen.“- , aber auch derjenige, der die offene Konfrontation scheut.
Mit Birgits Geschichte wechselt Schlink die Perspektive. Ihre Aufzeichnungen sind ein „ Roman im Roman“. Als Nachkriegskind wächst sie auf im Osten Deutschlands auf, mit einem „ Schattenvater“, der zwar im Krieg geblieben ist, für das Kind aber präsent bleibt. „ … er warf seinen Schatten auf es….Den Schatten der alten bösen Zeit. Das Mädchen wollte Teil der guten neuen Zeit sein.“
Doch das Leben im neuen Staat wird ihr bald zu eng. Aber im Westen fühlt sie sich auch nicht heimisch. „ Mir passierte im Kleinen, was ich den Ostdeutschen nach der Wende im Großen passieren sah.“
Auch was es bedeutet, lebenslang ein Geheimnis mit sich zu tragen, schildert der Autor einfühlsam und nachvollziehbar. „ Ich wusste nicht, was Verschweigen langfristig anrichtet.“ lässt er Birgit aufschreiben.
Schlink hätte hier die Geschichte von Kaspar und Birgit erzählen können , von Ost - und Westdeutschland, die unterschiedliche Sozialisation und damit einhergehend die verschiedene Wahrnehmung.
Doch dem Autor war ein weiteres Thema wichtig, nämlich die der wieder erstarkenden Nazi- Ideologie. In den ewig Unzufriedenen, in den Verlierern der Wende fällt das völkische Denken auf einen guten Nährboden. Gerade im Osten gibt es etliche völkische Siedlungen auf dem Land. Erschreckend ist deren Gedankengut und deren Vorhaben, mehr Einfluss zu gewinnen. Darauf aufmerksam zu machen ist ein Verdienst dieses Romans.
Allerdings wirkt dieser zweite Teil, Kaspars Unternehmungen, Sigrun von ihrer Nazi- Ideologie zu befreien, sehr unrealistisch. Es ist naiv zu glauben, mit ein bisschen humanistischer Bildung könnte man dem entgegensteuern. Die Dialoge zwischen Kaspar und Sigrun sind dementsprechend hölzern und wirken auf den Leser reichlich didaktisch. Auch das Figurenpersonal im zweiten Teil wirkt nicht mehr glaubwürdig. Hier greift Schlink auf bekannte Klischees zurück. Und Sigrun entspricht so garnicht dem Bild einer Vierzehnjährigen, auch wenn man berücksichtigt, wie sie aufgewachsen ist.
Um seine Geschichte voranzutreiben, muss der Autor einige Unwahrscheinlichkeiten einbauen. Vieles geht zu glatt und zu schnell.
Dafür entschädigt wieder der Schluss des Romans. Hier vermeidet Schlink zum Glück ein allzu gefälliges Happy- End.
Der Roman hinterlässt bei mir ein zwiespältiges Gefühl. Reichlich konstruiert, eine zum Teil altbackene Sprache, dazu wenig lebendige Figuren, das sind die Negativpunkte. Andererseits gibt der Roman tiefe Einblicke in das völkische Leben und zeigt, wie schwierig ein Gespräch mit Menschen aus diesem Umfeld ist. Die leisen Töne im ersten Teil des Buchs lohnen ebenfalls die Lektüre.