Von der Amöbe bis zum schwarzen Loch

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luisa_loves_literature Avatar

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Ich bin einfach überwältigt, allerdings meine ich das – genau so wenig wie Thomas Sautner die allermeisten Aussagen in seinem Roman – nicht im augenscheinlichen Sinne. Stattdessen lässt mich der Roman mit einem Gefühl von „das war alles viel zu viel, aber eigentlich doch irgendwie gar nichts“ zurück. So ist der Auftakt des Romans nahezu genial und einfach überragend. Die Schriftstellerin Aliza Berg erhält einen ominösen Brief mit der Bitte, einen Roman über das Leben zu schreiben. Alizas Auseinandersetzung mit dem Schreiben, ihre Art nach literaturwissenschaftlicher Manier jedem Wort und jedem Satzzeichen der Aufforderung einen tieferen Sinn abzutrotzen, ist meisterhaft und wahnsinnig unterhaltend. Ebenso grandios werden ihre Ankunft in Litstein, dem Ort in dessen Nähe der Auftragsroman angesiedelt sein soll, sowie ihre ersten Begegnungen mit den eigenwilligen und interessanten Figuren dieser Gemeinde geschildert. Wäre es so weitergegangen, hätte ich diesen Roman für immer bei mir getragen.

Stattdessen schwingt sich der Roman jedoch hinauf in die weiten Sphären des Universums, in existenzielle Problemstellungen und verliert sich in das Leben, den Sinn des Lebens, des Liebens und das Dasein hinterfragenden Episoden und Anekdoten. Er wird bevölkert von Figuren, die da oder doch nicht anwesend sind, und zerrinnt in metaphysisch anmutenden Betrachtungen. Die Handlung bleibt dabei naturgemäß nahezu auf der Strecke, während die Figurenentwicklung auf dem Altar des Universums geopfert wird. Ab einem gewissen Punkt verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Imagination, nichts ist mehr so greifbar und bodenständig wie die entschlossen klackernden Absätze von Alizas Schuhen auf dem Trottoir noch zu Beginn (S. 31). Dies ist allerdings gar nicht schlimm, denn ich unterstelle, dass der Roman den Leser verwirren, infrage stellen und zum tieferen Nachdenken anregen möchte, und dies gelingt ihm auf ganzer Linie. Da der Text darüber hinaus sprachlich ein Genuss ist, ist die Lektüre reizvoll und auch die Haptik des Buches mit sinnvoll auf den Inhalt bezogenem Titelfoto, ungewöhnlichem Format und rosa Lesebändchen macht viel Freude.

Dennoch: der Gesamteindruck, der mich am Ende des Romans begleitet ist, dass der Autor sich mit seiner Parabel der Unmöglichkeit die Gesamtheit des Lebens zwischen zwei Buchdeckel zu bannen, ebenso scheitert, wie Aliza selbst – der Kniff, der aus dem Roman wieder ein kleines Kunstwerk macht, ist jedoch gerade diese Erkenntnis: Sautner hat versucht, einen Roman über die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens zu schreiben und tappt dabei in die Falle, die er seiner Romanfigur stellt – aber vielleicht ist genau das so gewollt.