Der zweite Fall für Jakob Franck

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Einen gewöhnlichen Spannungsroman oder Krimi darf man von Friedrich Ani nicht erwarten. Genauso wenig wie einen der üblichen Ermittler.
Es sind eigenwillige Figuren, die in Anis Romanen nach so etwas wie Wahrheit suchen. Nach dem, was wirklich passiert ist, als das, was wir Verbrechen nennen, geschah. Unvergessen ist der "Vermissten-Finder" Tabor Süden, oder auch der Ex-Mönch Polonius Fischer oder der blinde Jonas Vogel.
Seit 2015 „ermittelt“ der pensionierte Kriminalbeamte Jakob Franck, einst spezialisiert darauf, Todesnachrichten zu überbringen und nun, nach seiner Pensionierung, immer noch dabei, diese ungeliebte, schwierige Aufgabe zu übernehmen. Im aktiven Dienst befinden sich sein Freund und ehemaliger Kollege André Block und die Kommissarin Elena Holland. Sie alle sind nachdenklich, introvertiert, zurückgezogen, mit mehr oder weniger gescheitertem Privatleben und unkonventionell in ihren Ermittlungsmethoden.

Und genauso ungewöhnlich sind die Fälle, die den Romanen Friedrich Anis zugrunde liegen. Keine bestialischen Ritualmorde, keine Gewalt im Bandenmilieu, keine politischen Intrigen. Es sind die stillen Fälle, die plötzlich Verschwundenen, die leisen Morde aus Verzweiflung, oder wie in Francks erstem Fall, in "Der namenlose Tag", ein 20 Jahre zurückliegender Selbstmord einer 17jährigen, in dem Franck einst ermittelte.

Diesmal ist es das Verschwinden des elfjährigen Lennard Grabbe und das Auffinden seiner Leiche 34 Tage später, um das sich das Geschehen dreht. Der Junge kam an einem kalten, stürmischen Wintertag vom Fußball, das Fahrrad war fort, gestohlen und das Handy lag zuhause. Doch was führte ihn fort von der Straße, in der Dunkelheit über den einsamen Spielplatz? Niemand hat etwas gesehen, oder doch, aber nichts Gewisses. Es sind mühsame Ermittlungen, die geführt werden, die Telefondaten aller zur Tatzeit am Tatort eingeloggten Handys müssen überprüft, alle Anwohner befragt und Verdächtige aus der Gegend vernommen werden, zum Beispiel der ehemalige Nachbar, der Lennard oft an der Schule abgepasst hatte. Vor allem müssen die Eltern betreut werden. Mit dem Überbringen der Nachricht vom Tod ihres über alles geliebten Kindes geschah die „Ermordung des Glücks“, von dem der Titel spricht. Ani beschreibt die Qual der Mutter, die völlig zerbricht. Ihre Reaktion ist extrem, vielleicht sogar ein wenig zu überspitzt. Aber was ist eine „normale“ Reaktion auf einen solchen Verlust?
„Lügen hätt ich wollen, so viel lügen und was erzählen, nur damit ich nicht kaputtgeh unter der Wahrheit. Hat nicht funktioniert, die Wahrheit war stärker. Schauen Sie mich an, ich bin so was von aus der Welt. Wie soll ich wieder reinkommen, in die Welt?“
Damit reiht sie sich ein in die lange Reihe von aus der Welt und der Zeit gefallenen Personen in den Romanen Friedrich Anis. Und sie ist dem Ermittler Jakob Franck gar nicht so unähnlich. Auch er plagt sich mit Dämonen aus der Vergangenheit, ungelösten Mordfällen, besonders dem an der eigenen Schwester vor vielen Jahren. Er kennt den Schmerz und die Verlassenheit. Vielleicht reden die anderen Untröstlichen, Ratlosen, Verlassenen, Gescheiterten, die das Buch bevölkern so offen mit ihm. Es ist aber auch seine Gabe zum Zuhören, die sie dazu ermuntert. Es ist seine „Gedankenfühligkeit“, auf die er vertraut. Dann steht er auch mal stundenlang mit dem Fußball des Jungen unbeweglich auf der Straße und wartet auf Reaktionen der Umwelt. Seine Tiefenbohrungen in die Welt der Menschen fordern Zeit und Geduld. Auch vom Leser. Sie sind praktisch das Gegenteil von Action, statt laut und spektakulär, leise, melancholisch und nachdenklich, statt schnell und atemberaubend, langsam und düster. Einsamkeit ist ein großes Motiv darin und die Verheerungen, die bei denen entstehen, die zurückbleiben. Ebenso, wie Menschen an der Unfähigkeit miteinander zu reden zerbrechen. Die Ehe der Grabbes ist schon lange gescheitert, nun zerbricht sie vollends.

Das Buch besteht zum großen Teil aus meisterhaften Monologen, dem verzweifelten Versuch, das Geschehen, das Leben, sich selbst zu verstehen. Darauf, auf das Entschleunigte, muss man sich einlassen können. Genauso wie auf die Düsternis, die unendliche Melancholie und Traurigkeit, die in Anis Büchern herrscht. Auf das gar nicht prächtige München der Randbezirke, der Aussichtslosigkeit. Dann erfährt man bei Friedrich Ani viel über die Menschen und ihren Kampf um ein bisschen Glück, und leider auch oft über ihr Scheitern. Und das in hoher sprachlicher und literarischer Qualität.