Hat man sein Glück selbst in der Hand?

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elke seifried Avatar

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„Antoines Geschichte beginnt zweimal. Einmal mit dem Tag seiner Geburt. Und ein zweites Mal, sechs Jahre später, am Tag, an dem seine Mutter Marlene verschwand.“ Antonie wird mit sechs Jahren von seiner Mutter einfach alleine zurückgelassen. Charlotte, die Kinderkrankenschwester nimmt ihn zu sich, jedoch ohne behördliche Genehmigung. Als zwei Jahre später Jules, ein angesehener Richter nach zahlreichen Fehlgeburten seiner Ehefrau Louise, nun wieder ein sterbenskrankes Neugeborenes in Händen hält, kommt ihm der abwegige Plan das Baby einfach auszutauschen, in den Sinn, obwohl das eigentlich gegen all seine moralischen Grundsätze spricht. Er erpresst die Kinderkrankenschwester, »Dann verstehen wir uns. Sie wollen den Jungen behalten, der in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis zu Ihnen steht, und ich will dieses Mädchen.« und bringt damit einen Stein ins Rollen, der das Leben aller Beteiligten für immer verändert.

Wie ändern sich die Leben der Beteiligten, was wird aus einem Antonie, was aus den vertauschten Mädchen? Kommt der ganze Schwindel ans Tageslicht und wird es Vergebung und Wiedergutmachung geben? Das wird natürlich nicht verraten, waren es doch genau die Fragen, die mich ans Buch gefesselt haben, die mich stets weiterlesen haben, weil ich ebendiese beantwortet haben wollte.

»Seelen sind wie Bäume und Vögel zugleich. Sie brauchen tiefe Wurzeln, die sie auch bei Unwetter festhalten. Die sie mit Nahrung versorgen, damit sie nicht mitten im Leben zu sterben beginnen. Und sie müssen frei sein, um sich zu ihren Träumen aufschwingen zu können. Wurzeln können wir nur in einem geeigneten Boden. Unsere Flügel ausbreiten nur dann, wenn kein Gewicht auf uns lastet.« Der teilweise poetische, äußerst bilderreiche Schreibstil der Autorin hätte so viel Potential, konnte mich aber emotional nicht so erreichen, wie ich mir das aufgrund der völlig ergreifenden Anfangsszenen erhofft habe. Hatte ich anfangs das Gefühl, mir zerreißt es fast das Herz, als ein Antonie mit sechs Jahren von seiner Mutter einfach verlassen wird und ich lesen musste, „Allein stand er da in einem bloßen löchrigen weißen Pyjamahemd. Auf dem Kiesweg. Auf Steinchen, die sich in seine Fußsohlen bohrten. Und wartete. Stunden. Den ganzen Tag. Im Regen, der in feinen dünnen Fäden vom Himmel fiel.“, hat sich nach dem Zeitsprung von zwei Jahren das emotionale Miterleben schnell verloren und ich habe eher einen distanzierten Beobachterplatz einnehmen müssen, wenn sich auch im weiteren Verlauf noch hin und wieder die eine oder andere bewegende Szene in der Erzählung versteckt. Die Autorin schildert fast schon berichtsähnlich durch Wiederholungen mit kleinen Abwandlungen, wie sich die Gefühle der Beteiligten verändern, so z.B. bei einem Jules dessen Gedankenkreisel, seine Selbstvorwürfe, nicht erkannt zu haben, „ dass man nie das Glück auf dem Unglück anderer aufbauen kann und dass Lügen ihre Flügel ausbreiten. Schwarze Flügel, die von Tag zu Tag wachsen.“, und die ihm das Leben zur Hölle machen, bei einer Louise wie sie unter der Entfremdung von ihrem Mann leidet, bei der eingetauschten Tochter Florentine, wie sie sich fehl im Leben platziert fühlt, bei einem Antonie, wie er damit kämpft, dass ihn seine Mutter verlassen hat, bei einer Charlotte wie sie mit den Geheimnissen umgeht, die ihr das Leben schwer machen, und später auch bei einigen vom dem Wunsch nach Vergebung und Wiedergutmachung.

»Niemand kann etwas für seine Herkunft. Aber für das, was er aus seinem Leben macht. Es liegt in unserer eigenen Verantwortung, das Leben in die richtige Bahn zu lenken, uns selbst an den richtigen Platz zu stellen. Denn auch der kann glücklich werden, der kein Glück hat.« oder auch „Das Selbst, das aus unserem bisherigen Leben erwachsen ist, nehmen wir mit– überallhin. Es sitzt uns im Nacken wie ein Mückenschwarm. Vor uns selbst fliehen können wir nicht. Nur– was Charlotte dem Jungen stets sagte– uns ändern. Täglich ein bisschen mehr zu dem werden, der wir sein wollen. Und vertrauen, dass alles einen Sinn hat. Dass sich uns dieser Sinn früher oder später offenbart. Wenn wir daran und an uns selbst glauben.“ Sicher toll sind die einzelnen Botschaften und Lebensweisheiten, die die Autorin mit ihrem Roman auf die Reise schickt und was mir grundsätzlich auch gut gefällt. Allerdings reiht sich hier schon fast eine Lebensweisheit an die andere und mir wäre hier ein bisschen weniger auf jeden Fall lieber gewesen, versteckt sich so doch die Handlung schon fast ein wenig hinter den guten Ratschlägen und lässt auf mich z.B. auch eine Charlotte zeitweise fast schon ein bisschen zu gut für die Welt erscheinen.

Auch war die Geschichte nicht immer so klar nachvollziehbar für mich. Wie kann es sein, dass eine fremde zweiundzwanzigjährige Frau einfach ein sechsjähriges Kind zu sich nimmt, keine Behörden wirklich danach krähen, wenn der Junge nicht zur Schule kommt oder das Haus, in dem er mit seiner Mutter bzw. Familie gelebt hat, zwei Jahre einfach so leer stehen bleibt? „Sie waren angekommen. Angekommen im Herzen eines Fleckchens Erde, das Charlotte bislang nicht gekannt, dessen Schönheit jedoch all ihre Träume durchglüht hatte. Immer hatte sie darauf vertraut, dass sie dieses magische Land eines Tages finden würde. Den Ort, an dem ihre Seele die Flügel ausbreiten konnte.“, einfach aufbrechen, ohne Planung loslaufen und trotzdem am scheinbar richtigen Ort ankommen, da ist mir zu viel Märchen dabei. Ein Samenkorn, das real von einem Traum in der Hand zurück bleibt, ein Buch in einer Kapelle, dessen Seiten auf einen Schlag leer sind, da erschien mir doch einfach vieles zu unrealistisch, was einfach nicht so meines ist. Auch kann ich mit Dingen wie einem übernatürlichen Sinn der plötzlich in einem erwacht, nicht so wirklich viel anfangen. Da bin ich einfach nicht die richtige Zielgruppe und damit habe ich bei der Buchbeschreibung auch nicht gerechnet.

Ich konnte mich klar in einen Jules hineindenken, ich hätte mit den Schuldgefühlen auch nicht leben wollen, auch in eine Louise, die merkt wie ihr ihr Ehemann immer mehr entgleitet, weil er sich verschließt. Auch konnte ich durchaus nachvollziehen, dass Vergebung nicht immer einfach ist, das man abwägen muss, ob man alte Narben aufreißen will oder nicht, und auch, dass die Frage, ob die Wahrheit oder ein Verschweigen besser ist, nicht so einfach und universell zu beantworten ist, auch wenn die Wahrheit stets Vorrang haben sollte. Die inneren Kämpfe, die die Beteiligten durchmachen, werden von der Autorin durchaus nachvollziehbar dargestellt, insgesamt denke ich hätte die Figurenzeichnung aber hier noch einige Luft nach oben gehabt.

Alles in allem konnte mich die Farbe von Glück leider nicht so abholen wie erhofft. Aber ich bin auch vielleicht einfach nicht die richtige Zielgruppe für dieses Buch und nach der Leseprobe mit zu großen Erwartungen an die Geschichte gegangen. Bei mir reicht es daher nicht mehr ganz für vier Sterne.