Die Rache einer Frau vor dem Hintergrund des herannahenden Zweiten Weltkriegs

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elke seifried Avatar

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Paris 1927: Madeleine, die Erbin eines Bankenimperiums, deren Exmann nach einem Skandal in Haft sitzt, steht nach dem Tod ihres Vaters, völlig alleine da. Mit Marcel Péricourt, dem großen und berühmten französischen Bankier, ist „ein Wahrzeichen der französischen Wirtschaft entschlafen“ und auf seinem „Begräbnis musste man sich zeigen, wenn man einen gewissen Rang einnahm“, so auch der Präsident höchstpersönlich, mit diesem Ereignis beginnt der Roman. Aber all das ist für Madeleine plötzlich gar nicht mehr wichtig, denn die Trauerzeremonie wird davon überschattet, dass ihr siebenjähriger Sohn Paul aus dem zweiten Stock und direkt auf den Sarg des Großvaters stürzt.

Als Leser darf man mit Madeleine und dem schwer verletzten Paul überstürzt den Leichenzug verlassen, wird jedoch stets darüber informiert, was im Hintergrund abläuft. Man bangt mit ihr im Krankenhaus um das Überleben ihres Sohns und stürzt dann mit ihr in eine tiefe Depression. Paul, den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt? Das darf nicht sein und so wird man Zeuge, wie Madeleine mit aller Kraft einer Mutter kämpft, sie lässt nichts unversucht um Paul wieder zum Laufen zu bringen. Außer ihrem Sohn zählt nichts für sie. Derweil leitet Gustave Joubert, der langjährige Prokurist, die Bank in ihrem Sinne, denkt sie zumindest lange Zeit. Zurück aus dem Krankenhaus heißt es dann erst einmal, dass „das Leben im Haus wieder seinem mehr oder weniger normalen Gang ging, zumindest soweit das an einem Ort möglich war, an dem ein halb gelähmter Junge, ein Kindermädchen, das kein Wort Französisch sprach, ein Journalist, der dafür bezahlt wurde, dass er nichts tat, eine Gesellschafterin, die sich mehr als fünfzehntausend Francs aus der Kasse gepumpt hatte, und die Erbin in einer familiengeführten Bank zusammenlebten.“ Madeleine überlässt die Geschäfte fast vollständig Gustave, dem sie lange Zeit blind vertraut. Für sie gilt „Stundenlang widmete sie sich unwichtigen Details, auf der Titanic hätte sie angefangen, die Liegestühle neu zu streichen.“. Doch dann steht die Familienbank vor dem Ruin und „Madeleine begriff die ganze Dimension der Manipulation, der sie zum Opfer gefallen war.“ Madeleine wächst über sich hinaus. Wie sie sich für Intrigen und missbrauchtes Vertrauen rächt, wird hier nicht verraten. Nur so viel vielleicht, es gilt „Alles, was sie an Moral und Skrupeln in sich hatte, sträubte sich dagegen, und alles, was sie an Zorn und Verbitterung in sich hatte, trieb sie dazu.“

Dies war mein erster Roman aus der Feder des französischen Schriftstellers Pierre Lemaitre, sicher nicht mein letzter. Auch wenn ich, ganz besonders zu Beginn, äußerst konzentriert lesen musste, damit ich dem durchaus gehobenen Schreibstil auch immer folgen und die Handlung hinter den ausgefeilten, detaillierten Beschreibungen klar ausmachen konnte. Dies und meine schlechtes Namensgedächtnis, dem zudem französische Namen so gar nicht geläufig sind und damit noch mehr Probleme bereiten, haben den Start für mich etwas holprig gemacht. Doch ich war von Anfang an vom stilistisch beeindruckenden Stil begeistert. Nachdem ich mich eingelesen hatte, war das Lesen nur noch Genuss pur. Pointierte Beschreibungen, wie „sich eine Hand vor ihre entsetzlichen Zähne zu halten, die ihre Eltern zur Verzweiflung brachten: man hätte meinen können, ein entmutigter Gott habe jeder der beiden nach der Geburt wild eine Handvoll Zähne in den Mund geworfen, die Zahnärzte waren erschüttert.“ , oder „Die Erste hatte ihren Haarknoten turbanartig umwickelt, er verschwand unter den Voluten eines suppenlöffelbreiten Bandes, was ihr das Aussehen einer Putzfrau in einer psychiatrischen Klinik verlieh.“, kann man sich hier geradezu zuhauf auf der Zunge vergehen lassen. Auch an Situationskomik mangelt es nicht. Besonders amüsiert habe ich mich so zum Beispiel über Onkel Charles Versuche seine beiden hässlichen Töchter unter die Haube zu bringen, Pauls Experimente mit Schlankheitsmitteln oder auch bei so manch angewandter List von Madeleine. Ich hatte diebische Freude dabei zu erleben, wie geschickt sie auf ihrem Rachefeldzug vorgeht und war stets gespannt, wie weit sie gehen, wie weit sie kommen und wo die Geschichte enden würde. Richtig gut haben mir auch die relativ schnellen Perspektivwechsel gefallen, die zwar konzentriertes Lesen voraussetzen, aber so ein perfektes Gesamtbild erschaffen und Spannung erzeugen. Auch die eine oder andere unverhoffte Wendung fesselt an den Roman.

Die Charaktere sind großartig angelegt, zusammengestellt und dargestellt. Mit Madeleine habe ich sicher am meisten gelitten, gefiebert und mich dann auch mit ihr gefreut. Wenn ich anfangs dachte, dass sie doch recht naiv und viel zu gutmütig ist, musste ich bald erkennen, dass ich sie deutlich unterschätzt habe, aber das ging wohl nicht nur mir so. Auch Onkel Charles, der Politiker, der reichlich Schmiergeld Erfahrung hat, oder der Prokurist Gustave, der seiner Enttäuschung Luft machen und im Leben auch etwas erreichen will, haben sicher nicht mit den Stärken der Bankierstochter gerechnet. Aber auch alle anderen Nebendarsteller sind grandios gezeichnet, bei Vladi, der polnischen Krankenschwester, dem Unikum, das nach Jahren noch kein Wort Französisch gelernt hat, über Kindermädchen Léonce, die mir in aller Hintertriebenheit zeitweise doch richtig leid getan hat, bis hin zu Monsieur Dupré, der mit äußerst sympathisch war und der Madeleine toll unterstützt hat.

„Die gesamte Republik war aus solchen Deals gewoben, dem Handel mit Einfluss war es nie besser gegangen.“, Schmiergeld, gute Beziehungen, Erpressung, gekaufte bzw. gelenkte Medienberichte der Autor geizt in seinem Roman nicht mit den Abgründen der Menschheit. Neid, Gier, Bigamie, Kindesmissbrauch, Steuerhinterziehung, schöngefärbte Lebensläufe und einiges mehr ist hier zu finden und wird von den unterschiedlichen Personen großartig verkörpert.

Nichts von alldem ist nicht auch heute zu finden, jedoch darf man als Leser bei diesem Roman auf eine gelungene Zeitreise gehen. Zeitgenössische Umgangsformen, Transportmittel und auch im Hintergrund die politischen Themen, die der aufziehende Nationalsozialismus mit sich bringt, versetzen einen gekonnt in die Zeit. So wird hier z.B. auch ein Unternehmen gegründet, das erste Düsenflugzeuge entwickeln will, oder ein Blick auf die Werbung der Zeit geworfen, die damals schon alles versprach und wenig hielt, oder es geht um die Unterstützung Hitlers und der Nationalsozialismus oder eben nicht.

Alles in allem trotz etwas holprigem Start für mich auf jeden Fall noch fünf Sterne.