Gute Unterhaltung, Rache und etwas Räuberpistole, aber kein großer Gesellschaftsroman

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francienolan Avatar

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Wer dieses Buch lesen will, sollte sich vorab gut informieren, denn die Vorankündigungen und auch einige der Vorschusslorbeeren treffen m.E. das Thema nicht.


Klappentext und Ankündigung: „Am Vorabend des zweiten Weltkriegs… bahnt sich ein Komplott an, um das mächtige Bankimperium Péricourt zu Fall zu bringen. Doch Madeleine, die Alleinerbin, weiß die Verhältnisse in Europa für sich zu nutzen und dreht den Spieß kurzerhand um.“
Das sprach für mich für einen historischen Roman über das Frankreich der interessanten 30iger Jahre des letzten Jahrhunderts und wird auch so vermarktet.
Auch der Satz „Eine packende Geschichte über den Kampf einer Frau in einer männerdominierten Gesellschaft“ findet sich vielerorts, auch in Rezensionen. Das schuf in mir das Bild einer Madeleine, die bei Erbantritt vielleicht noch unbedarft agiert, aber sich angesichts der Umstände emanzipiert - eine Hoffnung die sehr enttäuscht wurde.
Weitere Vorankündigungen lauten: „literarisches Epos…spektakuläres Sittengemälde am Vorabend des zweiten Weltkriegs in den Straßen von Paris… Anlehnung an die großen Romanciers des 19. Jahrhunderts (Balsac, Maupassant)"…"und der Krimi-Autor kann auch großes Epos“ u.v.m.
Nun ja, um es gleich vorweg zu nehmen, in die Begeisterungsstürme kann ich nicht einstimmen.

Meine Meinung: Es war mein erstes Buch von Pierre Lemaitre, der mir als guter Krimiautor ein Begriff ist. Was ich vorher nicht wusste, ist, dass dieses Buch als Teil einer Trilogie geschrieben wurde, dessen Erster Band „Wir sehen uns dort oben“ ist. Mit diesem Buch hatte der Autor zum ersten Mal das Genre „Gesellschaftsroman/historischer Roman“ betreten und wurde in Frankreich auch mit Preisen ausgezeichnet. (Man kann die Bücher allerdings durchaus völlig getrennt voneinander und eigenständig lesen.) Auch das hat meine Erwartungen natürlich beeinflusst.

Den Autor sollte man sich auch wirklich merken. Er hat eine sehr interessante Schreibe, die sich durch einen besonders feinsinnigen Hintergrund-Humor, eine bildhafte, detail- und temporeiche Sprache sowie einen gewissen Biss kennzeichnet, was wirklich vergnüglich und durchgängig spannend zu lesen ist. Hätte ich das Buch von Beginn an als reinen Unterhaltungsroman betrachtet, wäre meine Bewertung wahrscheinlich besser.

Was er wirklich kann, ist, die Protagonisten mit wenigen „Pinselstrichen“ klar zu zeichnen, er hat seine Protagonistenschar auch sehr gut ausgewählt (mit Bankier, Politiker, Journalist, Operndiva, Kindermädchen usw. eine breite Palette der Gesellschaft) und stellenweise auch differenziert dargestellt. So gelingt es ihm zunächst ansprechende Figuren und immer wieder überraschende Wendungen zu schaffen, das raffinierte Netz an Lügen und Intrigen, das seine Figuren spannen, ist ein Meisterwerk. Der Beginn des Romans ist entsprechend spektakulär und dadurch hatte mir auch die Leseprobe ausgesprochen gut gefallen.

Leider hält der Autor diese Darstellung nicht durch, je weiter die Geschichte vorangeht, umso mehr verkommen die Charaktere zu Klischees und die Handlung wirkt zunehmend konstruiert. Nicht mehr und nicht weniger als ein ausgeklügelter, aber völlig unrealistischer Rachefeldzug der eigentlich naiven und inzwischen gesellschaftlich ausgestoßenen Madeleine bekommt der Leser am Ende geboten. Das mag Spaß machen, hat in meinem Fall aber auch nicht zu lauten Lachern geführt, wie das andere Rezensenten beschreiben. Mir war es zu platt und zu altbekannt.
Ein typischer Satz, den manche Leser wohl als Schenkelklopfer empfanden: „Der gemeinsame Nenner aller Themen war natürlich das Geld. Die Politik sagte, ob es möglich wäre etwas zu verdienen, die Wirtschaft wie viel man verdienen konnte, die Industrie wie man es anstellen musste, und die Frauen auf welche Weise man es ausgeben könnte.“ Eine weitere Kostprobe: …“mit den zahlreichen Lockenwicklern im Haar ähnelte sie auf erschreckende Weise jener Ehefrau, die alle Männer eines Tages zu fürchten haben“…haha!?

Mein Humor ist das nicht, ok, es ist sicher kein unrealistisches Frauenbild für diese Zeit, aber aus Sicht eines heutigen Lesers auch nicht originell oder neu, und an allen Stellen, wo es um die Frauen geht, lässt der Autor seinen Sarkasmus auch merkwürdigerweise vermissen.
Für mich ist die Hauptprotagonistin keine starke Frau, auch am Ende nicht. Sie „ emanzipiert“ sich, indem sie sich zweier krimineller Männer bedient. Auf die Idee, sich arbeitend aus ihrer Misere zu ziehen, kommt sie zum Beispiel überhaupt nicht.

Frankreich, Paris und die Zeit erscheinen mir lediglich als Kulissen der Handlung. Historische Erkenntnisse kann man hier kaum gewinnen. Charakter oder Moral kommen eigentlich nicht vor. Es gibt ein paar „originelle“ Frauengestalten, aber die sind genauso überzeichnet wie das merkwürdige „Wunderkind“, oder der Teil der Geschichte, wo Madeleine sich mal eben der deutschen Nationalsozialisten bedient, um ihre Rache zu bekommen. Die Rache selbst ist meines Erachtens überzogen, und der Autor überlässt es vollständig dem Leser, welche Moral er aus dieser Geschichte ziehen soll. Das ist – zugegeben – unterhaltsam, aber mit dem Realitätsgehalt und der Sinnhaftigkeit von „Fantomas“.
Böse Zungen sprechen auch von Ähnlichkeiten mit der TV-Serie „Dallas“— auch das kein schlechter Vergleich!

Fazit: wer ein unterhaltsames Buch sucht, das eine weibliche Hauptprotagonistin hat, sämtliche gesellschaftlichen Themen abhandelt (Geld, Macht, Eigennutz & Lüge, Kriminalität, sexuelle Ausbeutung u.v.m), aber nicht viel Tiefgang braucht, der wird mit einem Buch beschenkt, das wirklich temporeich, humorvoll, raffiniert und keine Sekunde langweilig eine spannend aufgebaute Geschichte erzählt, die dafür spricht, von einem exzellenten Kriminalautoren geschrieben worden zu sein.

Wer sich nicht so gut mit fehlendem historischen Hintergrund, unrealistischer Konstruktion und eigentlich unsympathischen Hauptfiguren fühlt oder eher Romane mit Mehrwert sucht, wird wahrscheinlich enttäuscht sein. Deshalb nur eine eingeschränkte Leseempfehlung und drei von fünf Sternen, weil man sich den Autor dennoch merken sollte.