Unglaublich gut!

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fraedherike Avatar

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„Was für ein Abend, denkt Ivy. Winnies Auftritt, ja, aber auch die Menschen, die unverhofften Begegnungen, die sie nicht wieder vergessen wird.“ (S. 250)

Ein Abend im Theater, eine Alltagsflucht, ein Aufatmen ob der Feuer im Australischen Outback, dessen Rauchschwaden die Luft allmählich schwängern – aber davon sind die Besucher der Aufführung von Samuel Becketts „Glückliche Tage“, insbesondere die drei Frauen Margot, Ivy und Summer scheinbar weit entfernt. Während sich die Hauptfigur Winnie auf der Bühne im Stadium der Auflösung befindet, werden sie immer wieder von ihren Gedanken überwältigt: Margot, eine Literaturprofessorin, hadert mit dem nahenden Ende ihrer Lehrzeit und ihrem dementen Ehemann John, den sie über alles liebt, sowie der Beziehung zu ihrem Sohn und dessen Frau, einer wahren „Übermutter“; Ivy hingegen, Margots ehemalige Studentin und Kunstmäzenin, pendelt zwischen dem Trauma ihrer Fehlgeburt vor fast zwanzig Jahren und dem Glück, just Mutter eines gesunden Kindes geworden zu sein; Summer arbeitet als Platzanweiserin in dem Theater, doch lauter als die Stimmen der Schauspieler auf der Bühne sind das innere Pochen ihrer Angststörungen, die Sorge um ihre Freundin April, dessen Elternhaus von den Buschfeuern bedroht wird – und die Frage nach ihrer wahren Identität. In der Pause zwischen den Akten treffen sie aufeinander; eine Begegnung, die ihr Denken und ihren Blick auf die Welt verändern soll.

In ihrem Roman „Die Feuer“ (OT: The Performance, aus dem Englischen von Eva Bonné) lässt Claire Thomas unglaublich durchdacht und wunderbar konstruiert das innere und äußere Schauspiel miteinander verschmelzen: die Intimität und Härte der Gedankenwelt der drei Frauen, die sich an unterschiedlichen Punkten ihres Lebens befinden, und den allmählichen Zusammenbruch Winnies.

Entgegen der Bewegungsunfähigkeit der Charaktere – sitzen sie schließlich auf ihren Stühlen im Vorstellungsraum – sind ihre inneren Monologe lebendig und einnehmend, ein Gedanke folgt auf den nächsten, sie bedingen einander gegenseitig und wandern immer tiefer und tiefer – bis ein plötzliches Geräusch auf der Bühne oder eine Aussage der Schauspielerin sie mit einem Knall wieder in die Gegenwart katapultiert. Elegant und durchdacht platziert Thomas Teile der Erzählung des Theaterstücks, um den inneren Monolog der Frauen zu unterbrechen und zu beeinflussen, sie zu den existenziellen Fragen des Lebens kommen lässt: Wer bin ich, wie lange halte ich dieses Leben, das ich führe, noch aus, bis ich daran zerbreche?

Es ist wirklich genial, wie feinfühlig Thomas in die Gefühle ihrer Protagonistinnen blicken lässt, wie sie ihren Ängsten, Sorgen und ihrer Unentschlossenheit Worte verleiht. Sie behandelt dabei eine Fülle an Themen, die gesellschaftlich aktueller denn je sind, seien es häusliche Gewalt, psychische und degenerative Erkrankungen, Mutterschaft zu verschiedenen Zeitpunkten des Lebens, stiller Rassismus und die Frage nach Herkunft und Identität sowie die Auswirkungen und Folgen des Klimawandels. Die Erzählung wirkt zu keinem Zeitpunkt überladen, vielmehr flicht sie die Themen sanft und fließend in die jeweilige Lebenswelt der Frauen ein und macht sie so nahbar, greifbar, ja, erlebbar – bis sich letztlich alle miteinander verbinden.

Claire Thomas hat mit „Die Feuer“ einen großartigen, stilistisch außergewöhnlichen Roman geschrieben, der zum Denken anregt – über sich selbst und sein Leben, die Vergangenheit und die mögliche Zukunft – und darauf aufmerksam macht, wie fragil die Welt ist, in der wir leben. Ein wahres Meisterstück!