Laufen, bis die große Stille beginnt

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buecherfan.wit Avatar

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Im Mittelpunkt von Carrie Snyders Roman “Die Frau, die allen davon rannte“  steht Ich-Erzählerin Aganetha Smart. Sie ist 104 Jahre alt und lebt in einem Altersheim. Sie hält es nicht für ein Privileg, so alt zu werden, denn alle, die sie geliebt hat, sind tot. Das Leben im Heim ist öde. Man setzt sie vor ein Fenster in ihrem Zimmer oder - noch schlimmer – vor den lärmenden Fernseher im Gemeinschaftsraum. Deshalb freut sie sich, als ein unbekanntes junges Paar sie eines Tages mit ihrem Rollstuhl spazieren fahren will. Sie ahnt sofort, dass es nicht wirklich um eine Spazierfahrt geht. Wo werden sie sie hinbringen?

In langen Rückblenden erfährt der Leser die Geschichte ihres Lebens. Sie ist 1908 geboren und hat damit fast das genau 20. Jahrhundert erlebt. Besonders gern denkt sie an das Leben auf der Farm mit ihren Geschwistern und Halbgeschwistern. Besonders nahe stand sie der 13 Jahre älteren Halbschwester Fanny aus der ersten Ehe ihres Vaters. Mit ihr besuchte sie immer wieder die zahlreichen Kindergräber. Vor allem die Brüder hatten oft eine geringe Lebenserwartung, und Mütter starben am Kindbettfieber.

Von frühester Jugend an war Aganetha fasziniert vom Laufen. Als 1928 Frauen für die Leichtathletik zugelassen wurden, war sie die erste Goldmedaillengewinnerin. Sie hat die Faszination für das Laufen nie verloren, und läuft auch jetzt noch – zumindest in ihrem Kopf. Von ihrer Karriere und ihrem kurzen Ruhm ist allerdings in der Leseprobe noch nicht die Rede.

Mit Aganetha Smart hat Snyder eine eindrucksvolle Persönlichkeit geschaffen. Sie ist eine starke Frau, noch immer bei klarem Verstand und blickt ohne Sentimentalität auf ihr Leben: “Man tut, was man tut, bis man das Seine getan hat. Man ist, was man ist, bis man nicht mehr ist.“ (S. 9). Mich erinnert die Figur der Aganetha  ein wenig an Olive Kitteridge aus Elizabeth Strouts Roman “Mit Blick aufs Meer.“  Ich könnte mir vorstellen, dass mir Snyders Roman genauso gut gefällt.