Alle Kommenden. Alle Gehenden ...

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kainundabel Avatar

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… soll er sicher nach Hause lotsen, der Leuchtturm, den Robert Smart im Garten seines Hauses errichtet hat. In „Die Frau, die allen davonrannte“ kommen und gehen die Romanfiguren, sie bleiben, gehen wieder, kehren zurück, gehen für immer. Carrie Snyder wählt einen äußerst gelungenen Einstieg, um den Leser mit der Familienbiografie der Smarts vertraut werden zu lassen. Roberts Tochter, die kleine Aganetha, geht wie so oft mit ihrer zehn Jahre älteren Halbschwester Fannie auf den Friedhof. Auf diesem „Friedhof der toten Kinder“ liegen Fannies Mutter und vier ihrer viel zu jung verstorbenen Brüder, die sie immer liebevoll mit „Hallo, Mutter! Hallo, Jungs!“ begrüßt. Der Stammbaum am Beginn des Romans erleichtert dem Leser zudem das Verständnis der verwandtschaftlichen Beziehungen.
Heute ist Aganetha Smart 104 Jahre alt und lebt in einem Altenheim, von Fremden umgeben, im Rollstuhl sitzend in einem Zimmer, das nach „Hühnerfett und Windeln riecht“. Sie war einmal berühmt. Als junge Läuferin gewann sie für Kanada bei den Olympischen Spielen in Amsterdam 1928 eine Goldmedaille, nachdem erstmals Frauen in dieser Kategorie antreten durften. Auf 340 Seiten entfaltet die Autorin ein breit gefächertes Spektrum von Aganethas Leben, und die sollte der Leser aufmerksam lesen. Unvermittelt, von einem Satz zum anderen, ausgelöst durch Gesten, Worte und Bilder, wechseln die unterschiedlichen Zeitebenen der weiß Gott nicht immer einfachen und behüteten Kindheit mit dem Erfolg ihrer Jugend und ihres heutigen Abenteuers. Im Altenheim sind nämlich zwei junge Geschwister aufgetaucht, die die alte Dame angeblich kennen und sie „entführen“, um einen Film über sie zu drehen. Was sich hinter den beiden Personen und ihrer Mutter verbirgt, sei hier nicht verraten und wird erst am Ende des Buches aufgelöst.
Aganetha Smart ist eine fiktive Romanfigur, die zwar auf den historischen Tatsachen der Olympischen Spiele von 1928 basiert, aber hier stellvertretend die Pionierin verkörpert. Aber es geht um weitaus mehr als um Emanzipation. Ihr Leben ist angefüllt mit Momenten voller Wehmut, Enttäuschungen, Selbstzweifeln, Schicksalsschlägen, ein wenig Glück und sehr persönlichem Leid. Das hört sich zunächst wie triefender Schmerz an, ist es aber nicht. Carrie Snyder lässt den Leser intensiv und sprachlich gekonnt teilhaben an den Höhen und Tiefen von Aganethas Biografie. Keine Allerweltsliteratur, keine leicht zu genießende Kost, aber gerade deshalb lesenswert!