Berührende Familiengeschichte, nicht vordergründig Sportroman

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annajo Avatar

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Aganetha "Aggie" Smart wird 1908 als eines von vielen Kindern der Familie Smart auf einer Farm in Kanada geboren. Inzwischen ist sie 104 Jahre alt und lebt in einem Altenheim und nichts erinnert daran, dass sie einst eine Pionierin des Frauensports war. Nun tauchen zwei junge Leute auf und wollen sie für einen Film interviewen. Dazu bringen sie sie an den Ort ihrer Kindheit zurück und hier entfaltet sich das ganze Leben der Aganetha Smart zwischen historischen Sportereignissen und den Konventionen einer vergangenen Zeit.

Aggie wächst sehr ländlich auf und in einer eher ungewöhnlichen Familienkonstellation. Ihre Mutter ist die zweite Frau des Vaters. Bereits mit der ersten hatte er Kinder, sodass Aggie sehr viele Geschwister hat. Bereits früh entdeckt sie ihren Drang zu laufen. Mit 16 entflieht sie endlich der entlegenen Farm, mit der sie schöne, aber auch schmerzhafte Erinnerungen verbindet, und landet bei einer ihrer Schwestern in Toronto. Dort wird sie schließlich ins Trainingsteam eines Pralinenherstellers aufgenommen, mit dem sie schließlich die Olympischen Spiele 1928 erreicht und als eine der ersten Frauen die 800-Meter-Strecke läuft. Doch sie ist weiterhin von den Konventionen dazu eingeschränkt, was eine (alleinstehende) Frau darf und was nicht. Diese werden ihr ganzes Leben bestimmen.

"Die Frau, die allen davon lief" ist vor allem eine berührende Familiengeschichte, in der es um Aggie und ihre Geschwister geht. Den meisten von ihnen ist leider kein langes Leben beschieden, sodass Aggie viele Verluste verkraften muss. Zu Beginn ist der Erzählstil verwirrend. Die 104-jährige Aggie erzählt ihr Leben in Rückblenden, die leider gerade am Anfang nicht chronologisch aufeinander aufbauen, sondern sehr sprunghaft sind, sodass es auf den ersten 100 Seiten schwer fällt, die Bezüge zueinander herzustellen. Einzelne Episoden aus Aggies Kindheit sind schwer verständlich, vor allem, wenn es um das Laufen geht und wo das auf einmal herkommt. Insgesamt steht der Sport eigentlich nicht so im Fokus, wie ich es erwartet hätte. Aggie scheint zwar ein natürliches Laufbedürfnis, dafür aber wenig Ehrgeiz zu besitzen. Ihre Erfolge sind eher zufällig und für die Geschichte ist wichtiger, wie sich diese Erfolge auf ihre Freundschaften und Familienbeziehungen auswirken. Die Sportkarriere an sich ist eher eine kurze Episode in ihrem Leben. Zugegeben, die Autorin kann anhand dieser Karriere und ihren Bedingungen sehr gut darstellen wie stark benachteiligt und eingeschränkt Frauen auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch waren, doch die Dramatik und Tragik der Geschichte liegen eher in den persönlichen Entscheidungen Aggies.

Wenn man sich von den Erwartungen eines Sportromans löst, erlebt man mit diesem Roman eine emotionale Geschichte einer Frau über ein Jahrhundert hinweg, die sich auch entgegen der Konventionen ihren Weg sucht und doch immer wieder an Grenzen stoßen muss. Die Rückblenden fügen sich mit fortlaufender Seitenzahl auch immer besser zusammen und am Ende entsteht noch einmal ein Überraschungsmoment. Trotz kleiner Längen zwischendurch hat mich das Buch sehr berührt und mir gleichzeitig, wenn auch am Rande, noch etwas über den Frauensport beigebracht.