Die Schattenseite einer Goldmedaille

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
fraupfeffertopf Avatar

Von

Aganetha Smart ist 104 Jahre alt und lebt in einem Pflegeheim. Doch trotz ihrer Gebrechlichkeit ist sie keine gewöhnliche alte Dame. Aggie war eine bekannte Läuferin, die bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam eine Goldmedaille gewann. Eine Revolution in jenen Tagen, da Frauen bisher von einer Teilnahme ausgeschlossen waren. Zwei junge Leute möchten Aggie für eine Dokumentation interviewen. Die junge Frau gibt an, eine Verwandte Aggies zu sein, doch diese weist dies vehement zurück, da all ihre Verwandten tot seien. Ein vermeintlicher Spaziergang (ent)führt Aggie zu ihrer Heimat aus Kindheitstagen.

Von dem Titel und der Inhaltsangabe habe ich mir einen Roman erhofft, der von Sportlerinnen aus dieser Zeit erzählt. Ein Roman, der berichtet, welche Anstrengungen und Opfer die Frauen angesichts vorgeschriebener Geschlechterrollen aufbringen mussten, um sich zu beweisen. Im Besonderen hat mich Aggies Sportlerkarriere interessiert. Ich habe zwar keine Biographie (da Aggie eine fiktive Figur ist) erwartet, aber dennoch einen tieferen Einblick. Diesbezüglich fühle ich mich fehlgeleitet, denn diese Abschnitte werden lediglich kurz angerissen. Trainingseinheiten werden kaum erwähnt, es wird über die Sponsoren und ihre Laufkollegin und Freundin namens Glad berichtet, aber das Rennen aller Rennen umfasst gerade mal zwei Seiten. All die vorausgegangen Anstrengungen sind somit schwer zu greifen. Daher gibt es von mir einen kleinen Abzug.
Die Frau, die allen davon rannte thematisiert also leider wenig die Olympiade, sondern vielmehr Aggie und ihre tragische Familiengeschichte. Aggie wuchs auf einer Farm auf. Wir lernen ihre Halbgeschwister aus der ersten Ehe ihres Vaters kennen, ihre Mutter Jessica, die Aggie sowie Cora und Olive zur Welt brachte und die als Hebamme arbeitete und jungen Mädchen zum Schwangerschaftsabbruch verhalf. Wir erfahren, warum der Vater einen Leuchtturm auf einem Feld baut, begehen den Familienfriedhof und sehen durch Aggies Augen, wie ihre ältere Schwester Fannie eines Tages mit einem anderweitig liierten Mann im Maisfeld verschwindet. Als Aggie in die Stadt zog, musste sie schnell erwachsen werden. Dabei kämpfte sie mit denselben Dingen, die Mädchen in ihrem Alter und zu der Zeit durchlebten.
Bewundernswert ist das Talent der Autorin, all die Emotionen - Fröhlichkeit, Trauer, Frustration oder Erleichterung - die Aggie durchströmen, so zu porträtieren, als würde man sie selber durchleben. Die Freiheit, die sie beim Laufen verspürt, überträgt sich ebenso wie die überwältigenden Emotionen, die die Läufer am Ende des Rennens zu Boden reißt.
Das Cover ist klasse, wirkt träumerisch und lässt Spielraum für Interpretationen. Aggie läuft - unermüdlich. Sie lief, um ihren Traum vom Laufen zu verwirklichen. Sie lief aber auch einigen Problemen davon.
Es handelt sich um eine zugleich schöne, aber auch anrührende Geschichte. Denn obwohl Aggie die Goldmedaille gewann, blieb der Gewinn im Leben leider aus.