Laufen, bis die große Stille beginnt

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
buecherfan.wit Avatar

Von

Im Mittelpunkt von Carrie Snyders Debütroman “Die Frau, die allen davonrannte“ (Originaltitel: “Runner Girl“) steht Aganetha Smart. Sie ist 104 Jahre alt und lebt in völliger Anonymität in einem Altersheim. Aganetha genannt Aggie hält es nicht für ein Privileg, so alt zu werden, denn alle die sie geliebt hat und die sie geliebt haben, sind tot. Das Leben im Heim ist völlig ereignislos. Die einzig mögliche Veränderung ist der Standort ihres Rollstuhls. Deshalb freut sie sich, als Max und Kaley, ein ihr unbekanntes Geschwisterpaar, sie eines Tages spazieren fahren wollen. Sie ahnt sofort, dass es nicht wirklich um eine Spazierfahrt geht. Sie fahren mit ihr zu der Farm in Ontario, auf der sie aufgewachsen ist und wollen sie interviewen und filmen.
In zahlreichen langen Rückblenden aus Aganethas Perspektive erfährt der Leser die Geschichte ihres Lebens. Gern erinnert sie sich an ihre Kindheit und Jugend auf der Farm mit ihren Geschwistern und Halbgeschwistern. Besonders nah stand sie der 13 Jahre älteren Halbschwester Fanny aus der ersten Ehe ihres Vaters. Die innere Verbindung zu ihr ist bis ins hohe Alter nicht abgerissen.
Schon in ihrer Kindheit ist Aganetha fasziniert vom Laufen. Sie läuft täglich, obwohl dies für Mädchen als unschicklich galt. Als 16jährige folgt sie einer Einladung ihres Halbbruders George nach Toronto und lebt dort mit ihrer Schwester Olive in einer Pension. Beide arbeiten in einer Fabrik. Dann wird sie in das Leichtathletikteam des Besitzers der Pralinenfabrik Rosebud aufgenommen und arbeitet fortan für ihn. Sie lernt ihre Mannschaftskameradin Glad kennen, mit der sie eine tiefe Freundschaft verbindet. Doch sie muss erkennen, dass sie nicht nur im Sport Rivalinnen sind, und ihre Wege trennen sich.
1928 nimmt Aganetha an den Olympischen Spielen in Amsterdam teil und gewinnt die Goldmedaille über 800m, eine Disziplin, die sofort danach für Frauen untersagt und erst 1960 wieder zugelassen wird. Von ihrem Ruhm profitiert sie nur kurzzeitig, denn der Börsenkrach von 1929 und die nachfolgende Weltwirtschaftskrise stürzt viele Menschen in den Ruin. Das Team der Läuferinnen gibt es nicht mehr. Auch wenn ihre Karriere damit beendet ist, verliert Aganetha nicht ihre Begeisterung für das Laufen. Sie läuft bis ins hohe Alter, zuletzt nur noch in ihrem Kopf.
Mit Aganetha Smart hat Snyder ein eindrucksvolles Frauenporträt geschaffen. Ihre Geschichte berührt, auch wenn die Figur der Läuferin fiktiv ist. Die Schwierigkeiten, die eine Sportlerin zu der damaligen Zeit zu überwinden hatte und generell die gesellschaftlichen Einschränkungen für Frauen sind jedenfalls gut recherchiert und wirken authentisch. Besonders gelungen erscheint mir die Darstellung der komplizierten Familienverhältnisse. Die Begegnung mit den jungen Leuten konfrontiert Aganetha mit verdrängten Erinnerungen und einem Geheimnis, das sie mit in den Tod nehmen wird. Mit dem Ende ihrer Geschichte scheint sie auch am Ende ihres Lebens angekommen zu sein.
Mir hat Snyders Roman sehr gut gefallen, vor allem das einfühlsame Porträt einer starken Frau, die ihren kurzen Ruhm und ihre Fähigkeit zu laufen überlebt hat. Gut gelungen ist auch die Verbindung von Fiktion und zeitgenössischem Hintergrund. Ein sehr empfehlenswertes Buch.