Wunderschöne Lebensgeschichte einer ungewöhnlichen Frau

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marionhh Avatar

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Aganetha Smart ist hundertvier und lebt in einem Altenheim. Sie war einst eine große Läuferin, die 1928 bei der Olympiade im 800-Meter-Lauf die Goldmedaille für Kanada gewann. Nun kann sie nur noch im Kopf laufen und fristet ansonsten ein ereignisloses Dasein. Das ändert sich, als sie unerwartet Besuch von zwei jungen Menschen, Kaley und Max, erhält, die einen Dokumentarfilm über sie drehen wollen und sie an den Ort ihrer Kindheit, eine Farm im kanadischen New Arran, zurückbringen. Aganetha wird mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, sie erinnert sich an lang Verstorbene, an ihre große Zeit als bekannte Sportlerin, aber auch an ein lang gehütetes Geheimnis. Nach und nach dämmert ihr, dass die beiden jungen Leute ihr nicht die ganze Wahrheit über ihre Absichten verraten haben…

Ein wundervoller, poetischer Roman über eine starke Frau, die eine Pionierin war, sich aber über die Konventionen in der Männerwelt letztendlich nicht hinwegsetzen konnte. Aganetha Smart ist ungewöhnlich, eigenwillig, intelligent, ruhelos, besessen vom Laufen, eine die aus der Enge der Farm und dem vorgezeichneten Leben ausbricht und ihren eigenen Weg gehen will, aber auch ein Familienmensch, loyal und treu. Die Auf und Abs ihres Lebens meistert sie grandios, ohne viel Worte zu machen, nach Schicksalsschlägen rappelt sie sich wieder auf, Verluste ihrer Lieben setzen ihr zwar zu, tiefe Gefühle verschließt sie jedoch tief in ihrem Innern. Geheimnisse, die der anderen und ihre eigenen, hütet sie bis zum Tod. Sie ist ein starker Charakter, der alle anderen überstrahlt, nicht nur ist sie physisch größer als die meisten Frauen (und Männer) ihrer Zeit, durch ihr sportliches Talent und ihren Erfolg ragt sie ebenfalls heraus. Mehr jedoch beweist sie Größe in den kleinen Dingen, wie sie nach der Weltwirtschaftskrise wieder Fuß fasst, sich für keine Arbeit zu schade ist, wie sie für sich und andere kämpft und wie sie versucht ihrem Bruder George und seiner Familie zu helfen, von deren Existenz außer ihr keiner weiß, und ihre letzte großherzige Tat am Ende der Geschichte.

Durch den ungewöhnlichen Schreibstil der Autorin hat der Leser das Gefühl, wirklich im Kopf von Aganetha an ihren Erinnerungen teilzuhaben, diese mit zu erleben. Aganethas wacher Geist steht im krassen Gegensatz zu ihrem gebrechlichen Körper, der sie im Stich gelassen hat, doch in Gedanken durchlebt sie die Vergangenheit erneut und mit ihr der Leser. Geradezu atemlos verfolgt man das Geschehen, das nicht von großer Action oder nur von großen Ereignissen wie die Zeit des Olympiasieges und die darauf folgende Glanzzeit, sondern noch mehr von den alltäglichen Kümmernissen, den tiefen Gefühlen und Enttäuschungen, der Trauer um verstorbene geliebte Menschen, den Kampf um Job und Wohnung und das tägliche Brot geprägt ist. Die jungen Leute, die Aganetha fast schon entführen, lösen etwas in ihr aus, und in dem Maße, wie der Film und der Besuch der Kindheitsorte voranschreitet, so erinnert sich auch Aganetha an immer mehr Details. Dies geschieht nicht chronologisch, sondern durchaus unorthodox, mit Einschüben wie Zeitungsberichten oder Nachrufen und Sprüngen in der Zeit mitten im Kapitel, so wie ihr Hirn von einem zum anderen springt. So wird aus diesen paar Stunden eine Reise in die Vergangenheit, die sich über ein ganzes Leben erstreckt, bis zu dessen unvermeidlichen Ende, das aber friedlich und erfüllt geschieht.

Durch die poetische Sprache und die liebevollen Beschreibungen kommen dem Leser die Menschen wirklich nahe, man wird durch Aganetha Teil der Familie und lebt mit allem mit. Neben ihr bleiben jedoch viele Figuren recht blass, viele sind nur eine Zeit lang Wegbegleiter, andere wie ihre Schwester ein Leben lang. Ein für mich interessanter Charakter, der an Stärke und Empathie Aganetha gleichkommt, ist ihre Mutter Jessica, die zweite Frau ihres Vaters. Die späte Heirat mit dem verschlossenen Farmer beschert ihr eine Reihe von Stiefkindern sowie ein paar eigene. Neben der Arbeit auf der Farm und im Haushalt betätigt sie sich als Hebamme und Heilkundlerin, ihre andere, im stillen Kämmerlein ausgeübte Tätigkeit bleibt lange verborgen, bis Aganetha selbst ihr Geheimnis lüftet. Es zeigt aber, wie sich Jessica ebenfalls über Konventionen hinwegsetzt und ohne Vorurteile hilft.

Das Buch selbst kommt sehr edel gebunden daher mit hübschem Einband, das Cover ist eher modern. Hilfreich ist ein Stammbaum der Familie Smart am Anfang und ein Nachwort der Autorin am Ende des Buches, in dem sie die Hintergründe der Geschichte kurz erläutert. Die einzelnen Kapitel sind mit treffenden Überschriften versehen, die Geschichte wird jedoch nicht chronologisch erzählt, ohne großen Absatz springen Aganethas Gedanken in der Zeit hin und her, was mitunter ein kurzes Innehalten und Überlegen des Lesers nötig macht. Nichtsdestotrotz liest sich der Text flüssig, der Stil ist sehr einprägsam und persönlich und man baut ein geradezu intimes Verhältnis zu Aganetha auf.

Fazit: Ein großartiger Roman über eine starke Frau, die fiktiv ist und für alle Frauen steht, die sich etwas trauen und für ihren Traum kämpfen und die dabei so real ist, dass man glaubt sie tatsächlich zu kennen. Aganethas Präsenz im Buch ist eher körperlich, für uns Leser ist sie aber mehr geistig, ihre Gedanken laufen und toben herum und lassen uns mitspielen. Ihrem Charme kann man sich nicht entziehen, und so ist dieses Buch ein richtig toller Schmöker, der nachhallt, nachdenklich macht und im Gedächtnis bleibt wie ein alter lieber Freund.