Orientalisches Märchen mit Todesfolge

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singstar72 Avatar

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Zuallererst möchte ich mich bei einer anderen Nutzerin, arabella, bedanken, die den Titel für diese Rezension geprägt und mir freundlicherweise überlassen hat. Diese Worte treffen es für mich perfekt: das Buch hat auf mich eher wie ein Märchen gewirkt, orientalisch -weitschweifig und geruhsam erzählt; weniger wie ein Krimi. Was ich durchaus nicht abwertend meine. Das Buch hatte für mich viel Atmosphäre, und hat mich auf eine geschichtsträchtige Reise mitgenommen. Es hatte sympathische Figuren, die mir die Identifikation mit dem Geschehen erleichtert haben. Mein Punktabzug hängt nur mit dem letzten Drittel des Buches und dem Ende zusammen – doch dazu gleich mehr.

Erst einmal zu Kommissar Nevzat. Er ist ein sehr gemütlicher und auf Harmonie bedachter Mensch. Wenn seine Teammitglieder Ali und Zeynep sich streiten, ist er auf Ausgleich und Vermittlung bedacht. Er betrachtet sie wie seine Kinder – da fallen Begriffe wie „unser Hitzkopf“ oder „unsere Fleißige“. Außerdem beobachtet er augenzwinkernd, wie sich offenbar eine zarte Romanze zwischen den beiden entspinnt. Diese Stellen habe ich sehr genossen!

Nur wenn es wirklich nötig ist, kann Kommissar Nevzat durchgreifen. Ansonsten ist er allen Verdächtigen und Vorgesetzten gegenüber meist ausgesprochen höflich, trifft sich zum Tee und zum Essen. Auch seine beiden alten Freunde Demir und Yekta behandelt er gut. Erstaunlich finde ich, dass er ausgerechnet eine griechische Freundin hat -da ja die Feindschaft zwischen Türken und Griechen legendär ist. Hier hätte ich sogar gerne ein wenig mehr gelesen.

Sehr gefallen hat mir die Rolle des Assistenten, Kommissar Ali. Er ist tatsächlich ein Hitzkopf und Heißsporn , und vertritt meiner Ansicht nach den Leser im Buch. Sobald sich ein neues Verdachtsmoment ergibt, stürzt sich Ali mitten hinein. Alle -gefühlten – 10 Seiten ist er überzeugt, den Täter zu kennen, und wendet die Argumente (stellvertretend für den Leser ) hin und her, wird aber leider meist von seinem Chef Nevzat zurückgepfiffen. Das fand ich sehr unterhaltsam!

Kommissarin Zeynep wirkt dagegen meist hinter den Kulissen. Ermittlungstechnisch leistet sie die meiste Arbeit, wühlt in Archiven, durchforstet Datenbanken. Sie ist generell eher besonnen, ein gutes Gegengewicht zu Ali. Das Ermittlerteam wurde vom Autor wirklich mit Feingefühl zusammengestellt.

Der Fall an sich ist für hiesige Maßstäbe eher ungewöhnlich erzählt. Der „kriminelle“ Aspekt tritt nämlich im Laufe des Buches immer mehr in den Hintergrund. Alle 7 Opfer werden an historischen Stätten abgelegt -das Buch ist auch genau in 7 Abschnittes unterteilt. In jedem Abschnitt wird -recht geschickt in die Handlung eingeflochten – reichlich über den jeweiligen Herrscher doziert, der das Bauwerk errichten ließ. Museumsangestellte, Anwälte, Bauunternehmer - alle erzählen sie aus ihrer Sicht von Istanbul /Konstantinopel / Byzanz. Das ist insofern gerechtfertigt, als eben auch das Mordmotiv lange in diesem Umfeld (Geschichte und Stadtplanung ) vermutet wird.

Kommen wir nun zu meiner Kritik. Nur ganz am Ende, etwa im letzten Drittel des Buches, verselbständigt sich diese Erzähltechnik etwas, wird zu breit. Das Ende kommt auf 50 Seiten einfach zu plötzlich. Es hatte so gar nicht mit dem bisherigen Geschehen zu tun, und war weder für den Leser noch für den Kommissar absehbar. Es ist ein wenig schwer nachvollziehbar, warum ein erfahrener Ermittler 700 Seiten brauchen soll, um herauszufinden, dass das Motiv wesentlich persönlicher war als gedacht. Andererseits trägt das Ende zum „märchenhaften“ Aspekt bei, da es eine persönliche Tragödie enthält. Im letzten Abschnitt, dem Nachwort, musste ich tatsächlich schlucken …

Insgesamt kann ich das Buch als gelungenen Roman bezeichnen, der eher zufällig auch Krimi ist. Auf der emotionalen Ebene fand ich die Lektüre sehr befriedigend - auf der kriminalistischen etwas weniger.