Mutterschaft und Identität

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"Mir war, als wäre ich erblindet oder sonst nur unvollständig wahrnehmungsfähig gewesen und als lernte ich jetzt erst wieder sehen, schmecken, tasten, um mit allen Sinnen den Weg zur Lebensgeschichte meiner Mutter zu finden."

Rose' Mutter ist spurlos aus ihrem Leben verschwunden, als sie noch ein kleines Baby war. Jetzt ist Rose 34, unzufrieden in ihrer Beziehung und mit dem generellen Stand ihres Lebens, und sie weiß immer noch nicht viel über ihre Mutter. Bis ihr Vater ihr eröffnet, dass Elise kurz vor ihrem Verschwinden eine leidenschaftliche Beziehung mit der erfolgreichen Schriftstellerin Constance Holden hatte - die danach nie wieder ein Buch geschrieben hat. Rose sieht ihre Chance gekommen, das Geheimnis ihrer Mutter zu lüften, und macht sich daran, Connie zu finden - mit ungeahnten Folgen.

Eigentlich rollt Jessie Burton hier einen altbekannten Stoff aus, der in der Literatur schon häufig durchgekaut wurde: Das Verschwinden eines Elternteils beeinträchtigt in irgendeiner Form die charakterliche Entwicklung eines Menschen, und dieser wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich das Geheimnis zu ergründen. Allerdings gelingt es der Autorin, das Material modern und ansprechend zu verpacken. Der Perspektivwechsel zwischen Rose und Elise sorgt für Spannung, und die Leserin hat das Gefühl, das Geheimnis nach und nach zu lüften, obwohl Rose eigentlich ziemlich auf der Stelle tritt und plötzlich ganz andere Sorgen hat als das Mutter-Gespenst. Viel mehr ist es so, dass wir uns in Elises Geschichte auf Rose zubewegen, nicht umgekehrt. Die Autorin spielt also ganz geschickt mit den Erwartungen, die man an den Roman hat.

Am Anfang schleppt sich das Ganze allerdings ein wenig dahin, denn viele Themen werden angeschnitten, kurz gestreift, aufgerissen, zusammengeworfen. Die ersten 120 Seiten empfand ich als ziemlich wirr und chaotisch - und dann wird es plötzlich besser. Es ist, als hätte sich die Autorin selbst erst in ihre Stimme hineinschreiben müssen. Dann verfliegen die Seiten nur so, denn die Geschichte ist wirklich abwechslungsreich erzählt, mit vielen Wendungen und lebensnahen Entscheidungsmomenten.

Im Grunde geht es in dem Buch nicht nur um die titelgebende Mutter Elise, sondern um alle Mütter. Sehr geschickt bringt Burton eigentlich alle denkbaren "Mutter-Typen" in der Geschichte unter und erzählt so ganz allgemein etwas über das Thema Mutterschaft. Es gibt in der Geschichte Frauen, die am Muttersein verzweifeln; Frauen, die nie den Wunsch nach Kindern hatten, im Alter aber unverhofft mit kindlicher Liebe beschenkt werden; Frauen, die einfach nicht wissen, ob sie Mutter sein wollen; Frauen, die abtreiben; Frauen, die Kinder bekommen und sie auf Instagram inszenieren; Frauen, die Kinder verlieren und daran zerbrechen; Frauen, die Kinder adoptieren. Die ganze Bandbreite ist vertreten, und die wichtigste Botschaft ist: All diese Lebenswege sind in Ordnung. Mir wurde manchmal ganz warm ums Herz dabei, wie liebevoll Burton mit ihren Frauencharakteren umgeht.

Aber klar, deren Leben ist nicht einfach. Elise ist jung und unerfahren, weiß nicht wohin, hängt sich an die starke Connie, die sie sehr liebt. Auch hier zeigt sich der modern-leichte Erzählton: Ja, es ist eine lesbische Liebe, aber das Wort "lesbisch" kommt im Buch gerade zweimal vor. Liebe und Sexualität brauchen bei Burton keine Etiketten, das ist sehr erfrischend. Elises und Connies Liebe wird auf eine harte Probe gestellt, als sie für die Verfilmung von Connies Erfolgsroman nach L.A. reisen. Connie fühlt sich pudelwohl, Elise gefällt das Leben dort nicht. Es ist tragisch, wie die Liebe zerbricht, aber aufgrund von Rose' Existenz natürlich auch vorhersehbar.

Anders ist das bei Rose selbst, bei der sofort klar wird, dass in ihrer langjährigen Beziehung mit Joe schon lange keine Rede mehr von Leidenschaft sein kann. Sie sind beide irgendwie trantütig, und Rose' ständige Beschwerden, ihre Abneigung gegen Joes Familie und ihre ganze Orientierungslosigkeit machten sie für mich am Anfang manchmal ein bisschen abstoßend. Erst, als sie Connie kennen lernt und viel Zeit mit ihr verbringt, begibt sie sich auf die Suche nach ihrer eigenen Identität und wagt es, Entscheidungen zu treffen - und das ganz unabhängig von Joe oder dem Gespenst ihrer Mutter. Sie löst sich von der Vergangenheit und geht mutig in die Zukunft. Dadurch wird sie auch zu einer sympathischeren Protagonistin.

Burtons Roman stellt die große Frage danach, ob wir unsere Identität selbst erschaffen können oder ob sie abhängig ist von unseren Eltern und unseren Kindern. Das halboffene Ende hinterlässt den angenehmen Eindruck, dass weder die Vergangenheit noch die Zukunft in Stein gemeißelt sind, und dass jeder das Recht hat, sich von alten Lasten zu befreien, um für Neues offen zu sein. Schöne, kurzweilige Unterhaltungsliteratur mit feministischen Momenten.